Il Giustino
(Antonio Vivaldi)
Staatsoper Unter den Linden, Berlin
Premiere am 20.11.2022
Antonio Vivaldi war ein überaus produktiver Komponist: nach gegenwärtigem Stand sind neben vielen weiteren Werken nicht weniger als 500 Konzerte und 49 Opern bekannt.
Die Historie um das Noten-Material klingt abenteuerlich. Viele Werke waren über Jahrhunderte verschollen. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu Zufallsentdeckungen umfangreicher Materialien in alten Klosteranlagen. Dank großzügiger Spenden zweier italienischer Familien konnte zum Beispiel die Nationalbibliothek Turin die Funde erwerben und einer sorgfältigen Restaurierung und Editierung überantworten.
So umfangreich die wiedergefundenen Materialien auch sind, bleibt ungewiss, wieviel weitere Werke für immer verschollen bleiben werden. Nicht selten sind einzelne Seiten, oder ganze Stückteile aus den Originalen herausgerissen worden.
In den letzten Jahrzehnten haben sich dann auf die Barockmusik spezialisierte Ensembles an die Wiederaufführung der Bühnenwerke gewagt. Auch gibt es mittlerweile Tonträger-Produktionen vormals gänzlich unbekannter Bühnenwerke Vivaldis.
Es erscheint daher zwingend, dass sich der seit Jahren führende Künstler der Barockmusik, René Jacobs dem Werk Vivaldis widmet. In seinem 30. Jubiläumsjahr bei den jährlichen Barocktagen an der Staatsoper Unter den Linden stellt er zusammen mit der tschechischen Regisseurin Barbora Horáková die 1724 am Teatro Capranica in Rom uraufgeführte Oper Il Giustino zur Diskussion. Reinhard Strohm hat eine kritische Neufassung vorgelegt, die 1985 in Versailles zur Uraufführung gelangte.
Jacobs hat – wie er im Programmheft ausführt – aus dem über fünf Stunden langen Notenmaterial eine praktikable Fassung von circa drei Stunden Musik geformt. Dabei ging es Jacobs darum, die effektbezogenen ‚nach außen‘ gerichteten sowie die ‚nach innen‘ fokussierten Musik- und Arienpartien mit der spezifischen Struktur der Rezitative so aufeinander abzustimmen, dass sich ein sinnfälliger und unterhaltsamer musikalischer und dramatischer Gesamtverlauf ergibt.
In Vivaldis Gesamtfassung sind nicht weniger als 20 der 44 Gesangsnummern aus anderen, eigenen Werken entnommen. Auch das Libretto ist aus älteren Vorlagen sukzessive zusammengesetzt worden.
Ohne intensive Arbeit an einer spielfähigen Fassung kann man sich dem Werk also nicht nähern. Jacobs hat elf Arien gestrichen und etliche Da-Capo-Teile gekürzt. Statt eines der Oper vorgeschalteten Violinkonzertes von Vivaldi erklingt die Ouvertüre zu Adriano in Siria von Antonio Caldara. Übernommen hat Jacobs den ungewöhnlichen Einsatz des Psalteriums (Salterio), eines Instrumentes, das sowohl zupfend als auch schlagend gespielt wird und welches Klänge einer Harmonie der Sphären beschwört.
Die Handlung umfasst – zurückhaltend formuliert – Elemente aus sehr disparaten Welten. Sie wirkt wie ein Bildungsroman der Zeit mit mythischen Komponenten, dem ewigen Rad der Fortuna sowie den wundersamen Entwicklungen eines märchenhaften Lebens, in welchem ein Hirte zum Kaiser wird, sowie Intrigen und Liebesverwirrungen am kaiserlichen Hofe. Verloren gegangene und wiedergefundene Brüder gehören am Ende zur Lösung des Konflikts ebenso dazu wie ein Bär, der besiegt werden muss.
Dem Dirigenten und der Regisseurin gelingt es, einen auch für heutige Zuhörer unterhaltsamen Abend auf höchstem künstlerischen Niveau zu kreieren. Horáková arbeitet mit Versatzstücken aus vielen Jahrhunderten, wobei die Kulissen- und Figurenwelt des Barocktheaters mit einem sich bühnengroß drehenden Glücksrad der Fortuna vielfältig präsent sind (Bühne von Thilo Ullrich). Kostüme von Eva-Maria Van Acker bestärken den bunt-pasticcio-haften Ansatz. Eine kleine Kindergruppe erweitert, bricht und relativiert nochmals die Handlungs- und Bildperspektive.
Neben der weitgehend fragmentarischen Bühnenperspektive bietet die Szene (mit der feinfühligen Lichtregie von Sascha Zauner) viele, abwechslungsreiche, teilweise verulkte und derbe Darstellungsmomente. Man kann in einem ausgeprägt präzis-choreographierten timing Charley Chaplin und auch Laurel und Hardy erkennen. Die Regisseurin scheut keine starken, auch chargierenden und derben Effekte und geht auf diese Weise der Frage nach dem Begriff der Unterhaltung im Barocktheater nach.
Die Frage nach der Definition des Glücks wird gestellt sowie fluide Geschlechteridentitäten gezeigt, zum Beispiel bei einigen der als schwächere Charaktere gezeichneten Männerfiguren. Warum einigen Sängerdarstellern pausenlos tuntige Gesten abverlangt werden, bleibt offen. Zumindest geben die Darsteller ganz sichtbar ihrem Affen gerne Zucker und weil das Theater in einem geschützten woken Umfeld agiert, kann kein Zweifel an der achtsamen Behandlung aller Lebensformen bestehen. Ansonsten hätte man meinen können, dass ein homophobes Produktionsteam sich über schwule Verhaltensformen lustig macht.
Das Sängerensemble kann nicht überboten werden. Viele der Protagonisten haben mit Jacobs bereits mehrfach an anderer Stelle zusammen gearbeitet. Countertenor Christophe Dumaux singt einen bewegenden, besonders in den sensiblen Teilen der Partie mitreißenden Giustino. Die Intensität der Gestaltung durch den Sänger lässt alle hanebüchenen Handlungselemente vergessen
Der Kaiser Anastasio wird vom Countertenor Raffaele Pe spielfreudig und mit souveräner Stimmführung gegeben. Seine Partnerin Kaiserin Arianna verkörpert Kateryna Kasper mit atemberaubender Präzision und Ausdruckskraft, übermenschlich in ihrer einsamen Perfektion. Leocasta – die Schwester des Kaisers - wird von der amerikanischen Sopranistin Robin Johannsen gegeben. Der tyrannische Rebell Vitaliano wird vom Ensemblemitglied Siyabonga Maqungo mit wendiger Tenorstimme verkörpert. Es ist erstaunlich, welche Repertoire-Spannweite dieser junge Südafrikaner in relativ kurzer Zeit erarbeitet hat.
Helena Rasker singt und spielt in fluider Gendererscheinung den Andronico, Olivia Vermeulen erscheint als Amanzi und Fortuna, Polidarte ist mit Magnis Dietrich aus dem Opernstudie besetzt.
Der Staatsopernchor singt unter der Leitung von Gerhard Polifka. Die Akademie für Alte Musik Berlin ist traditionell an der Staatsoper für die Barock-Pflege eingesetzt und erarbeitet sich glanzvoll ein neues Werk ihres seit Gründung 1982 erarbeiteten Repertoires.
Das Publikum springt geschlossen von den Sitzen zu langanhaltendem Applaus für alle Beteiligten der Produktion.
Achim Dombrowski
Copyright: Matthias Baus
22. November 2022 | Drucken
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