Deutsche Oper Berlin
Antikrist
Kirchenoper von Rued Langgard
Premiere am 30. Januar 2022
Der dänische Komponist Rued Langgard (1893 bis 1952) wuchs in einem hochgebildeten, musikalischen Elternhaus auf und galt schon früh als komponierendes Wunderkind und Genie. Im Alter von nur 20 Jahren gelang 1913 die Realisierung eines gesamten Langgard-Abends bei den Berliner Philharmonikern, u.a. mit der Uraufführung seiner ersten Sinfonie. So schnell dieser ungewöhnliche Erfolg erzielt wurde, so wenig ließ er sich auch nur in kleinem Maßstab später wiederholen. Viele Werke hat der Komponist nie in Aufführungen erleben können, wurden tatsächlich überhaupt nie gespielt. Dabei war Langgard ein sehr produktiver Künstler: er schuf nicht weniger als 400 Werke in verschiedenen Genres, darunter viel Kammermusik wie auch sieben Streichquartette, Klavier- und Orgelwerke, 16 Sinfonien, die Kirchenoper Antikrist und vieles mehr.
Der Künstler verlor sich durch die Ablehnung seiner Werke und seiner Persönlichkeit zunehmend in Resignation und eine sich immer stärker ausprägende Märtyrerhaltung.
Langgard greift im Antikrist ein uraltes Menschheitsthema auf: den bevorstehenden Weltuntergang. Das passt in die 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mit ihren transzendenten Themen und dem vorherrschenden Empfindungshorizont gar nicht weniger Musikschaffender für die Opernbühne.
Der Text stammt vom Komponisten selbst. Es handelt sich um einen egozentrischen Kosmos der besonderen Art mit Beschwörungen, Drohungen, unheilvollen Voraussagen und vielen allegorischen Anspielungen. Zugrunde liegt der Wunsch und Wille zur Umwertung aller Werte. Die rein monologischen Textpassagen weisen einen Oratorien-haften, anklagenden, appellierenden Charakter auf, soweit sie überhaupt in einem logischen Sinne verständlich sind. Sie werden in Berlin in deutscher Übersetzung gesungen.
Die Musik schwelgt überwiegend im Stile Wagners und Richard Strauss‘ mit Einsprengseln von Debussy, Stravinsky und anderen Zeitgenossen. György Ligeti jedenfalls war von den Kompositionen Langgards tief beeindruckt.
Die Handlungs-Ansätze entwickeln sich in zwei Akten und sechs Tableaus mit den Thematiken „Dekadenz“, „Hoffart“, „Hoffnungslosigkeit“, „Begierde“, „Anarchie“ und „Verdammnis und Erlösung“. Dabei wird überwiegend in reinen Monologen gesungen mit langen und ausschweifenden Orchesterpassagen.
Die Oper erlebte ihre szenische Uraufführung erst 1999 lange nach dem Tod des Komponisten und wurde seitdem bisher lediglich in drei weiteren Produktionen in Kopenhagen, Mainz und jetzt an der Deutschen Oper Berlin präsentiert.
Der Regisseur und Bühnenbildner Ersan Mondtag erfindet dazu ein ganzes Geschwader schwarzer, comic-gleicher Figuren, die die Handlungselemente ausleben: der Luzifer von Thomas Lehman ruft Gottes Stimme an, die die Erscheinung des Antikrist in mannigfaltigen Erscheinungen duldet. Gottes Stimme wird von Jonas Grundner-Culemann verkörpert, der blutverschmiert zur Welt kommt und dem Spuk im letzten Bild schließlich ein Ende bereitet.
Sowohl in seiner Erscheinung wie auch bei der großen Hure (Flurina Stucki) sowie dem Tier in Scharlach (A. J. Glueckert) sind die Geschlechterzuweisungen verstörend gebrochen. Die handelnden Figuren weisen in ihren Kostümen (Ersan Mondtag zusammen mit Annika Lu Hermann) sowie in einer vom Bühnenhimmel schwebenden, raumgreifenden Figur mit den Gesichtszügen des Darstellers Grundner-Culemanns sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsteile auf – eine laufend präsente, immerwährende Verstörung.
Das Bühnenbild deutet eine Stadtlandschaft in expressionistischer Farbwahl an. Der Mund, der große Worte spricht (die ursprünglich von Clemens Bieber einstudierte Rolle wurde Corona-bedingt von Miguel Collado-Sanchez gespielt und von Thomas Blondelle am Rande der Szene gesungen), Die Lüge (Andrew Dickinson) und Der Hass (Jordan Shanahan) sind Spielfiguren aus den nachschwärzesten Höllen von Computerspielen, die dennoch in ihrer allegorischen Bedeutsamkeit für die Erschütterung gesellschaftlicher Strukturen verständlich sind.
Der gesamte rund 90-minütige Abend wird in der Choreographie von Rob Fordeyn von insgesamt zwölf Tänzern und Tänzerinnen begleitet, die zum Teil in einer Art triadischer Kostüme die Abläufe unbestimmt in irritierender Weise korrespondierend - oder aber betont abseits stehend - begleiten, so dass fortwährend ein Element von Einsamkeit und Verlorenheit stets gewärtig bleibt.
Der Chor der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Jeremy Bines sowie das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung des Generalmusikdirektors der Hannoveraner Oper, Stephan Zilias, meistern die großen Aufgaben mit Bravour. Insbesondere das Orchester vermag durch das süffige Ausspielen der spätromantischen Aufschwünge, die durchaus wiederholt in Kontrast zu den nacht-schwarzen Elementen der Szene stehen, mitzureißen und die längeren Passagen ohne Gesang mit ganz eigener Virtuosität zu erfüllen.
Das Werk behält auch heute seinen rätselhaften, hintergründig verunsichernden Charakter und benötigt – wie man bei dieser szenischen Umsetzung klar erkennen kann - zu Recht auch keinen direkten Bezug zu heutigen Untergangsphantasien im Zeitalter der Ängste um einen bewusst wahrgenommenen Klimawandel mit all seinen Gefahren für die Menschheit. Diese Querverbindung mag der einzelne Betrachter aus der szenischen Realisierung von sich aus entwickeln, wie auch weitere aktuelle, gesellschaftlich relevante Bezüge.
Achim Dombrowski
Copyright: Thomas Aurin
02. Februar 2022 | Drucken
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