Premiere am 30. Januar 2022
Besuchte Vorstellung: 04.02.2022
Theater Bremen
In Bremen gelingt eine inhaltlich überraschende Neuinszenierung von Verdis Falstaff unter Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen
Außenseiter Falstaff trickst sich im Widerstand zur bürgerlichen Gesellschaft durchs Leben und ist auf der Pirsch nach Frauen, die er ausnehmen kann. Ideale Opfer erscheinen ihm Alice Ford und Meg Page, denen er zwei gleichlautende Liebesbriefe schreibt. Der bis zur Schmerzhaftigkeit eifersüchtige Ehemann von Alice erfährt davon, verkleidet sich und bittet Falstaff, seine angebetete Alice – in Wirklichkeit seine Frau – zu verführen. Er bietet viel Geld. Als Ford von Falstaff erfährt, dass dieser gerade zu einem Rendezvous zu Alice unterwegs ist, platzt er vor Wut und Verzweiflung. Bei Falstaffs Treffen mit Alice tobt Ford herein, um den Dicken zu erschlagen. Falstaff wird von den Frauen versteckt und schließlich zur Erheiterung aller in die Themse geworfen.
Ford will seine Tochter Nannetta mit dem Langweiler Dr. Cajus verheiraten, was Mutter und Tochter vermeiden wollen. Falstaff wird eine Einladung von Alice überbracht, die ihre Unschuld an den vorangegangenen Vorkommnissen beteuert und ihn um Mitternacht verkleidet in den Park bestellt. Er geht ihr auf den Leim. Alle fallen über Falstaff her. Ford will bei dieser Gelegenheit seine Tochter mit Dr. Cajus verheiraten. Bei den auf Initiative der Frauen vorab vertauschten Verkleidungen gibt Ford unwissentlich der Verbindung der beiden Liebenden Nannetta und Fenton seinen Segen. Falstaff führt die abschließende Fuge an „Lauter Betrogene - Alles in der Welt ist Spaß“.
Das klingt alles lustig und unbeschwert – nicht durchgängig so jedoch im neuen Konzept von Paul-Georg Dittrich in seiner sechsten Arbeit für das Theater Bremen. Dittrich fasziniert zunächst die Parallele im Charakter Falstaffs zu Kindern oder Jugendlichen. Diese lehnen zu bestimmten Zeiten immer die Konventionen der Eltern ab. Falstaff ist sein ganzes Leben bei dieser Haltung geblieben. Er verhält sich narzisstisch und radikal gegen die bürgerlichen Normen und reizt seine Zeitgenossen bis aufs Blut.
Die Normen dieser bürgerlichen Welt treiben mitunter gewaltige Stilblüten, die in hypertrophen Kostümen von Andy Besuch sichtbar werden. Die Männer laufen überwiegend in scharlachroten Richtergewändern herum, um ihrer Bedeutung und ihren Belehrungen Nachdruck zu verleihen. Die Frauen gerieren sich in bunten, ausladenden Phantasiegewändern, besonders wenn Falstaff verführt werden soll. Dabei tragen sie Kronen, die jeder Operettenkönigin, Opernzaritsa oder auch einer Eiskönigin gerecht werden. Welche Ersatzhandlungen sollen dies Verkleidungen bemänteln? Bemalte Nackttrikots der Frauen unter der Verkleidung, vor allem bei Nannetta, zeigen anfangs einen natürlichen körperlichen Selbstbezug, bis sie im dritten Akt in einem strikt gestylten, grauen Kostüm wie bei einer Geschäftsfrau endet und alle Weiblichkeit fortan unter diesem Panzer verschwindet.
Die Szene von Pia Dederichs und Lena Schmid schafft durch die Überbrückung zweier Sitzreihen im Zuschauerraum zusammen mit dem ersten Rang-Balkon das Rund einer Zirkusmanege oder Arena, die in heller Leuchtschrift mit dem Motto „WHAT’s PAST is PROLOGUE““ versehen ist. Dieses Zitat aus Shakespeares Sturm bezeichnet die immerwährende Herausforderung der scheinbar gefestigten bürgerlichen Verhältnisse durch das Prinzip Falstaff oder die Jugend. Erst durch den Wiederstands kann eine Gesellschaft lebendig bleiben.
Dies ereignet sich durch die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen, die dabei ihre eigene charakterliche Identität entwickeln. Sie werden in das Geschehen integriert und haben durch eigene Zeichnungen und Bilder zum Thema „…erste Liebe…“ oder „… auf Menschenjagd…“ Beiträge erstellt, die durch Projektionen auf der Bühne reflektiert werden.
Zeitweise begleiten zwei Kameramänner die Protagonisten auf der vorgezogenen Spielebene und übertragen die Bilder auf einen elliptischen Leinwandausschnitt oberhalb der Bühne, um einerseits eine bessere Sichtbarkeit zu gewährleisten, andererseits bestimmte Blickwinkel dramaturgisch zu nutzen. So schaut man im dritten Akt von weit oberhalb der Bühne auf das Geschehen.
Das Ganze ist nicht ungefährlich. In das teilweise hektische Geschehen der ersten beiden Akte schleicht sich eine immer größere Gereiztheit und Gewaltbereitschaft. Unmerklich wird sukzessive mit unterschiedlichen Waffen wie Bögen, Gewehren und Pistolen hantiert. Als Falstaff schließlich von den Frauen in die Themse geworfen werden soll, löst sich ein Schuss aus einer Pistole. Keiner weiß, wie ihm geschieht. Falstaff bricht zusammen.
Im dritten Akt verändert sich die Szene merklich. Wir sehen die verzwergte Welt eines bürgerlichen Dorfes. Falstaff schaut entrückt auf diese fremde Umgebung und die Jugendlichen beginnen durch einen Initiationsprozess zu gehen, der ihre Gruppe inhärent spaltet. Die einen ziehen – ihren Eltern ähnlich - übergangslos die roten Richtergewänder an, andere setzen vereinzelt die Puppenhäuser ihrer verengten Welt in Brand. Ein einzelnes Kind verbleibt im Vordergrund – es hält verzweifelt eine Figurine mit dem Aussehen Falstaffs in den Armen und will nicht von ihrer Idee lassen.
Ein überraschendes, spannendes und durchweg überzeugendes Konzept, das handwerklich vollumfänglich überzeugt. Keiner kann sich vorstellen, dass eine Arbeit dieses Regisseurs wegen künstlerischer Differenzen an einem Opernhaus nur wenige Tage vor der Premiere nicht zur Umsetzung gelangen könnte.
Der Falstaff von Johannes Schwärsky ist in zeitgemäßer Alltagskleidung und angenehmen Auftritt von Anbeginn eine sympathische Identifikationsfigur. Schwärsky weiß seine Stimme im Rahmen seiner möglichen Ressourcen klug zu führen. Ford wird überzeugend mit Verve und verzweifeltem Ausdruck von Elias Gyungseok Han dargestellt.
Die Frauen sind ein überzeugendes Team aus dem Ensemble des Hauses mit Meike Hartmann als Alice Ford, Marysol Schalit als Nannetta, Mariana Pentcheva als Quickly und Nathalie Mittelbach als Meg.
Der Chor des Theaters Bremen unter der Leitung von Alice Meregaglia wird seinen Aufgaben bestens gerecht. Die Bremer Philharmoniker unter ihrem Chef Marko Letonja überhöhen den reduktionistischen Stil in Verdis Spätwerk mit einem hauchzarten Ton der Verfeinerung, der dem Geschehen den Charakter einer Mitsommernacht verleiht, der allerdings nicht immer zu trauen ist.
Große Applaus-Freude und viele Bravi
Achim Dombrowski
Copyright: Jörg Landsberg
07. Februar 2022 | Drucken
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