Warum eine neue Biographie zu Beethoven, der seit Jahrhunderten in Publikationen aller Art behandelt wird?
Zunächst zum Autor: Jan Caeyers ist belgischer Dirigent, Wissenschaftler und Hochschullehrer. Er arbeitete als Assistent von Claudio Abbado beim Gustav Mahler Jugendorchester, wie später auch mit Bernhard Haitink und Pierre Boulez. Als freischaffender Dirigent arbeitet er heute mit einer Vielzahl von Orchestern und Chören in ganz Europa zusammen.
Im Jahre 2010 gründete Caeyers in Antwerpen gewissermaßen sein eigenes Beethovenorchester Le Concert Olympique, inspiriert durch seine lebenslange Faszination und Auseinandersetzung mit dem Werk und der Person des Komponisten.
Bereits 2009 erschien seine Biographie zu Ludwig van Beethoven in Amsterdam, die er im Beethovenjahr 2020 erweitert und auch in Deutschland neu herausgegeben hat, sie gilt schon seit der Erstausgabe als Referenzwerk unter den Beethovenbiographien.
In dem über 700 Seiten langen Werk gibt keine neuen Themen: alle auch von Caeyers aufgegriffenen Begebenheiten in Beethoven Leben sind auch vorher schon vielfach benannt worden: Beethovens ruppiger, unsteter Charakter bis hin zu Labilität; das nie zu lösende Geheimnis seiner fernen Geliebten, das heißt der einzigen ihm nur zeitweise nahen Frau in seinem Leben; die pädagogisch und menschlich in jeder Hinsicht unglückliche und oft kontraproduktive Zuwendung zu seinem Neffen Karl; auf der musikalisch aufführungstechnischen Ebene die seit Schaffung der Werke anhaltende Diskussion über die korrekten Zeitmaße, trotz und gerade wegen Beethovens eigener, oft nachträglich angebrachter Metronom-Angaben.
Sehr plastisch herausgearbeitet sind die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung des Adels relativiert sich tendenziell zugunsten eines aufstrebenden Bürgertums. Das hat auch Implikationen auf Beethovens lebenslanges Ringen um Aufträge und Geld. Die von adeligen Auftraggebern zugesagten laufenden Pensionszahlungen können mitunter nicht mehr eingehalten werden. Die neuen Reichen haben sich hingegen ihre Mittel selbst erarbeitet, das erfordert eine andere Art der Verhandlung. Erstarkende Musikverlage müssen einem breiten Musikgeschmack gerecht werden und benötigen Werke, die sich ihrem wachsenden Publikum erschließen und die auch nicht nur für den professionellen Virtuosen spielbar sein dürfen.
Beethovens impulsiver Charakter macht es ihm schwer, über Aufträge, Bedingungen, Vergütungen zu verhandeln. So wie seine Geldgeber ihn mitunter im Stich lassen,vergisst er im Einzelfall die Erfüllung von Vereinbarungen und bleibt die Lieferung von Kompositionen schuldig. Sein in Europa wachsender Ruhm und seine über die Zeit sich festigendes künstlerisches Selbstverständnis ändern an der permanenten wirtschaftlichen Drucksituation ein Leben lang nichts.
Caeyers vermittelt mit einfachen Worten und wenigen Notenbeispielen die Hauptwesensmerkmale wichtiger Werke. Die Erklärungen sind auch für jeden Laien nachvollziehbar. Werke an den Weggabelungen stilistischer Entwicklungen werden benannt und hervorgehoben, so dass der Leser sich selbst durch das parallele Hören der genannten Musikstücke, z.B. Klaviersonaten, Sinfonien oder Streichquartette ein Bild machen kann, wenn er denn will. Das gilt auch für diejenigen Kompositionen, die in der Spätphase durch zunehmende Abstraktion und Auflösung des traditionellen äußeren Formkanons charakterisiert sind. Dem Autor gelingt eine äußerst sensible Darstellung der in Graden simultanen Entwicklung einer steigender Abstraktion im Kompositionsstil bei wachsendem spieltechnischem Anspruch an die Musiker und Beethovens persönlicher menschlicher Vereinsamung, eben nicht nur durch die vielfach benannten Hörprobleme.
Ein wesentlicher Verdienst des Werkes liegt in der Kunst, wiedie Argumente zu Leben und Person des Komponisten vorgebracht und verarbeitet werden. Caeyers hat einerseits zu allen relevanten Entwicklungspunkten, Einflüssen und unausweichlichen Interpretationen eine klare Meinung mit jeweils präziser Begründung, andererseits verfällt er nicht in eine belehrende Suada absoluter, unaufhörlich aufeinander gestapelter Argumentationen, die einen potentiellen gedanklichen Widerspruch des Lesers abtöten. Vielmehr nennt er die Namen der Autoren auch abweichender Meinungen aus der Geschichte der Beethoven-Biographien.
Damit ermöglicht er gleichsam eine Plattform für die Synthese und Konsolidierung des wissenschaftlichen Standes der Beethoven Biographik. Wer will, kann andere Quellen aufsuchen und sein Wissen und seine Meinung fortentwickeln. Selbstverständlich weisen die Anhänge des Buches eine wohlgeordnete Listung der Quellen vielfältige weitere Forschungswege aus.
Caeyers geht allen Heroisierungen wie auch dem Gegenteil, der Darstellung des Menschen Beethoven als menschlichem Versager aus dem Weg. Der Mensch Beethoven wird in seinen Stärken und Schwächen beurteilt. Er ist wie er ist. Caeyers braucht keinen Sockel, auf den er ihn heben muss, noch einen solchen, von dem er ihn herunterstoßen will, wie wir das in vielen anderen Werken dieses Genres nur zu gut kennen.
Der Erzähl- und Darstellungsstil ist unterhaltsam, verständlich und flüssig, woran in nicht geringem Maße auch die lebendige deutsche Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Ecke ihren Anteil hat.
Achim Dombrowski
26. Mai 2020 | Drucken
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