Der Fliegende Holländer in Hamburg bricht mit sämtlichen Hörgewohnheiten - mit großem Gewinn

Xl_b7926672-a8c9-4018-b86b-86acd4e7f418 © Hans Jörg Michel

Der Fliegende Holländer

Richard Wagner

 

Hamburgische Staatsoper

Premiere am 23. Oktober 2022 

besuchte Aufführung: 04. November 2022

Nach einer Vorlage Heinrich Heines streift in Richard Wagners Der Fliegende Holländer rastlos über die Meere auf der Suche nach der Erlösung durch eine Frau. Als er erneut an Land geht, trifft er auf den Seefahrer-Kaufmann Daland, der angesichts der unermesslichen Reichtümer des Holländers diesem seine Tochter Senta überlassen will. 

Schon während der Ouvertüre entwindet sich Senta einem Kokon, der ihr erstickende Enge sowie gleichzeitig wärmende Hülle bedeutet. Sie will ihm entfliehen, sie kann jedoch auf seinen natürlichen Schutz nicht verzichten. Dieser Zwiespalt bleibt quälend gegenwärtig: die in ihrer Bestimmung ersehnte Liebe kann sie als Individuum außerhalb dieser Ur-Materie nicht leben. Als sich dieses Schicksal nach Begegnung mit dem Holländer und seiner beabsichtigten Flucht verdichtet, tut sie sich Gewalt an. Mit ihrem Tod nimmt sie sich ihre Hoffnung auf die Liebeserfüllung, und damit auf Individualität und Menschlichkeit. Wie die Mannschaft des Holländers wird sie durch das Ur-Material ihres Kokons über ihrem Antlitz eine auf ewig entindividualisierte, tote Seele im Gefolge des Holländers.

Der Ruf der Mannschaft des Holländers aus dem 1. Akt: „Ew'ge Vernichtung, nimm uns auf!“ wird als blasphemische Verkündigung unentrinnbar erfüllt. Die szenische und musikalische Umsetzung wirkt in ihrer Geschlossenheit wie der erbarmungslose Vollzug des Fatums. Anders als in Wagners Textbuch gibt es keine Umarmung des Paares im Tode, keine Verklärung, keine Transzendenz. Eine in der Romantik durch unbedingtes Liebessehnen mögliche Erlösung findet nicht statt. 

So schwarz-verknappt, hoffnungslos und asketisch auf den Kern zurückgeführt ist die von Michael Thalheimer gestaltete Neuproduktion des Fliegenden Holländers an der Hamburgischen Staatsoper konzipiert und umgesetzt. Bühnenbildner Olaf Altmann hat die Spielfläche mit einem Einheitsbild von reflektierenden Seilen versehen, durch welche sich alle Protagonisten sowie die Chöre hindurcharbeiten. Diese Elemente sind von zwiespältiger Bedeutung, immer Hindernisse und Stützen zugleich. Sie werden von weiß-grellem Licht (Lichtkunst von Steffan Bolliger) aus wechselnden Perspektiven angestrahlt, und reflektieren es wie die Oberflächen kalter, menschenfeindlicher Eisflächen. Keine Schiffe, kein Holländerbild, keine anderen Bildelemente.       

Der Hamburger Musikdirekter Kent Nagano findet zu dieser schwarzen Sichtweise eine einschüchternd kongruente, ungewohnte musikalische Umsetzung. Nagano erarbeitet das Frühwerk Wagners mit der Besinnung auf Herkunft und Einflüsse in der Musik vor Richard Wagner, gewissermaßen bis zu Webers Wolfsschluchtszene im Freischütz. Elemente der deutschen Spieloper, des Liedhaften und der Tanzrhythmik charakterisieren das Klangbild. Diesem Relief in der Partitur wird mit ungewohnt langsamen Tempi nach-gehört. Alle Orchester- oder Solostimmen erklingen dabei in einem umfassenden, verknüpften Klangraum, der jeder Instrumentengruppe, ja jedem individuellen Instrument eindrücklich Verhör verschafft. 

Die speziell von Wagner seinerzeit im Klangbild geschaffenen, verstörenden Neuerungen wirken vor dem Hintergrund dieser Balance aufregender und bedrohlicher als bei Interpretationen mit den gewohnten, zügigeren Tempi und Fokussierung auf die jeweils charaktervollsten, oder auch nur lautesten Instrumentengruppen. Dasselbe gilt insbesondere für die Chorpartien. 

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg folgt seinem Chef mit Spielfreude und größter Bereitschaft, die abgründigen Klangmodulationen der Schauergeschichte in jedem Detail mit Sensibilität zu entfalten. Viele solistische Elemente der Holzbläser sind besonders hervorzuheben. Generell sind an alle Instrumenten-Gruppen durch Tempowahl, die eingeforderte Durchhörbarkeit und Präzision hohe Anforderungen gestellt, die allesamt erfüllt werden.    

Einen erschütternden Höhepunkt erreicht die Aufführung im Duett Holländer – Senta im zweiten Akt. Bei dem unwirklichen, hymnisch-musikalisch übersteigerten Schluss kommt es durch die gedehnten Tempi vor dem Hintergrund der nachtschwarzen Szene nachgerade zu einer physischen Berührung mit der verzweifelten Utopie dieser vergeblichen Verbindung.

Jennifer Holloway hat in Hamburg zuvor schon als Elektras Schwester Chrysothemis und als Elisabeth im Tannhäuser große Erfolge gefeiert. Die immensen Anforderungen an  Stimmführung und lyrischen Ausdruck bei den hohen Lagen zu den innigen Hoffnungsworten auf die Erlösung des Holländers in Sentas Ballade erfüllt sie mit ergreifender Verletzlichkeit und Intensität.      

Thomas Johannes Mayer singt und agiert als Schwarzer Holländer mit der dunkel-grundierten Brillanz seines Bass-Baritons. Die Stimme wird stets beweglich geführt. Darstellerisch gelingt es Mayer, einem gewissermaßen in den Seilen sehr eng-geführten Charakter bewegenden Ausdruck zu geben.  

Kwangchul Youn gibt einen unendlich disziplinierten Daland. Wie immer ist die Textverständlichkeit des Sängers makellos. Er ist gesanglich und darstellerisch von der hintergründigen Gemütlichkeit eines kaufmännisch gewandten Seefahrers, der auch ganz schnell seine eigene Tochter gegen einen traumhaften Gewinn eintauscht.       

Den verzweifelt-aussichtslosen Jugendfreund Erik, der sich große Hoffnungen auf eine weltliche Beziehung zu Senta macht, gibt Benjamin Bruns als überzeugende Charakterstudie mit strahlend-gebrochenen Tenor. Der Steuermann von Peter Hoare und die Amme Mary von Katja Pieweck geben überzeugende Rollenportraits.

Die Chöre der Staatsoper Hamburg (Leitung Eberhard Friedrich) sowie den Herren des Chores der Nationaloper Kyiv (Leitung Bogdan Plish) überzeugen in den großen Mannschaftsszenen. Die Stimmkraft der Kollektive kommt auf der karg-schwarzen Szene, nur mit schwankenden, teilweise ins Publikum gerichteten Leuchtmitteln, frappierend zur Geltung. Die Damen überzeugen stimmlich und darstellerisch auch mit der Spinnerinnen-Szene optisch wie zusammengedrängte, angstvolle Vögelchen. 

Originalität und Qualität dieser geschlossenen szenisch-musikalischen Umsetzung in Hamburg übertrifft eindeutig die letzte Bayreuther Produktion von 2021 trotz der dortigen, stupenden Leistungen von Asmik Gregorian als Senta und Oksana Lyniv als erster Frau am Pult des Festspielhauses.

Der Abend dauert nicht weniger als 15 Minuten länger als die durchschnittliche Spieldauer der pausenlosen Fassung – schon fast eine Zeitspanne, die heute keiner mehr zu haben glaubt. Das Publikum folgt dem Geschehen gebannt und mit gefesseltem Staunen, ein selten zu beobachtendes Phänomen in Hamburg – vielleicht die wichtigste Bekundung der Anerkennung für diese Aufführung. Lang anhaltender, begeisterter Applaus mit Bravorufen; ein einzelner, kraftvoll-wütender Buhrufer beim Schlussapplaus für Kent Nagano erinnert effektvoll daran, wie anders unsere Hörgewohnheiten waren.

Achim Dombrowski, Hamburg

Copyright: Hans Jörg Michel 

 

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