Elektra im großbürgerlichen Ambiente neu in Hamburg

Xl_1a15d686-0dd9-4ff4-84cd-1265046cb5d0 © Monika Rittershaus

ELEKTRA
(Richard Strauss)
Premiere am 28.11.2021

Die Staatsoper Hamburg landet einen großen Erfolg mit einer speziellen Sichtweise auf Richard Strauss‘ Elektra 

Strauss/Hofmannsthals Elektra basierend auf der sophokleischen Artriden-Tragödie spielt im Palasthof vom Mykene: die Mägde sprechen unter sich verächtlich über Elektra. Diese gedenkt ihres von ihrer Mutter und deren Geliebten Aegisth getöteten Vaters Agamemnon. Sie schwört Rache. Ihr Bruder Orest soll ihre Mutter Klytämnestra und Ihren Liebhaber töten. Ihre Schwester Chrysothemis will dieser Situation entfliehen. In der Begegnung Elektras und ihrer Mutter Klytämnestra bitte diese Elektra um Rat gegen quälende Schlaflosigkeit und Träume. Als Elektra ihr entgegenschleudert, dass sie für ihre Schuld nur durch den eigenen Tod erlöst werden kann, trifft die Nachricht ein, dass Orest gestorben sei. Elektra will nun den Racheakt mit Hilfe ihrer Schwester Chrysothemis ausführen. Diese flieht entsetzt. Schließlich erscheint Orest, die Meldung seines Todes war falsch. Orest erschlägt seine Mutter Klytämnestra und Ägisth. Elektra tanzt ekstatisch in ihren Tod. Orest und Chrysothemis überleben.

Deutlich anders sieht die Umsetzung von Dmitri Tcherniakov aus. Der russische Regisseur, der das Bühnenbild selbst verantwortet, arbeitet mit seinem vertrauten Team zusammen: die Kostüme kreiert Elena Zytseva, das Licht Gleb Filshtinsky, die eigene Dramaturgie Tatiana Werestchagina.           

Statt Mykene zeigt die Bühne eine Großbürger-Wohnung der vorletzten Jahrhundertwende, die in die Jahre gekommen ist. Sie könnte in dem Wiener Stadtteil liegen, in welchem auch Siegmund Freud wohnte oder ebenso in Hamburg. Statt der Mägde sehen wir ein Kaffeekränzchen von betagten Freundinnen um Klytämnestra, die sich gemeinsam boshaft über Elektra und ihre Rituale lustig machen. Elektra packt wiederholt eine Pappkiste mit Stofftieren sowie einer lebensgroßen Agamemnon-Attrappe aus, der sie Wunderkerzen aufsetzt. Chrysothemis versucht zwischen der Schwester und Mutter zu vermitteln, was ihr nicht gelingt. Die hassverzerrte Begegnung zwischen Elektra und ihrer Mutter endet einfach im Abgang Klytämnestras wie bei einem alten, sich fortwährend wiederholenden Ritual. Elektra ist nach ihrem neuen, eigenen Ausbruch der Mutter gegenüber erschöpft, verzweifelt und am Boden zerstört. Chrysothemis schreit die Nachricht über den Tod Orests heraus, wie einen Sachverhalt, der lange bekannt und lediglich zwanghaft wiederholt wird. Ein Fremder dringt in die Wohnung ein, den Elektra in ihrem erschöpften Wahn für ihren Bruder Orest hält. Der fremde Mörder tötet Klytämnestra und Aegisth. Elektra tanzt in ihren Tod. Auch Chrysothemis wird vom fremden Mörder erstochen.      

Die Handlung wird dabei über den Fremden mit einem Mordfall verknüpft, der zur Zeit der Entstehung von Hofmannsthals Drama in Wien verübt wurde, und über den der Dichter seinerzeit intensiv reflektierte. Letztlich erlaubt die Abwesenheit des rächenden Bruders eine noch brutalere Analyse der Situation unter den Frauen: die Unmöglichkeit, die psychisch versteinerte Konstellation innerhalb dieser Familie, und sei es durch Mord, zu lösen. 

Diese Umsetzung ist zunächst gelegentlich konträr zur thematisch-musikalischen Struktur des Orchesterparts, eröffnet aber eine deutlich intensivierte Fokussierung auf die psychologische Disposition der weiblichen Protagonistinnen: in der musikalischen Begegnung Elektras mit ihrem Bruder Orest kann sich diese ihrem Bruder für kurze Zeit zu nachgerade balsamischen Klängen des Orchesters öffnen und an eine unschuldige und reine Mädchenzeit erinnern, bevor sie vom Verlust ihrer Scham berichtet und in den Taumel ihres Hasses zurückfällt. Szenisch wird ein entgegengesetztes, erschütterndes Bild gegeben: Elektra eröffnet die Erinnerungen an ihre Unschuld und ihr Vergewaltigungstrauma verzweifelt einem gänzlich Fremden. Die Personen kommen sich nicht näher, umarmen sich – anders als im Text - niemals. Oft steht Elektra mit verschränkten Armen vor dem vollständig teilnahmslosen Eindringling: ein Bild ungeheuer verzweifelter, nicht endender Einsamkeit der Titelfigur.    

Für alle drei Frauen existiert eine Hölle der Zwanghaftigkeit, aus der es kein Entkommen gibt. Elektra sitzt fest in der krampfartiger Trauer um ihren ermordeten Vater und dem Trauma einer Vergewaltigung. Klytämestra leidet unausweichlich an ihrer verdrängten Schuld und den fortgesetzten Angriffen ihrer Tochter. Chrysothemis verwelkt in ihrem Sehnen nach einer eigenen Familie und erfüllten Leben mit Kindern.  

Diese Interpretation kommt letztendlich dem Geist der griechischen Tragödie näher als die Scheinlösung mit der rächenden Tat durch den Bruder. Denn mit dem Mord an Mutter und Geliebtem geht die Artriden-Tragödie auch nur in die nächste Runde nicht enden-wollenden Verderbens.    

Die Solisten sind großartig besetzt: Ausrine Stundyte gibt mit dieser Elektra ihr erfolgreiches Hausdebut in Hamburg. Sie weiß sich rückhaltlos in die symphonischen Orchesterfluten einzubringen und ist auch darstellerisch in ihrer jungenhaften Erscheinung eine berührende Verkörperung der verzweifelten Titelfigur. 

Jennifer Holloway im Rollendebut als Chrysothemis überzeugt von Anfang an. Sie ist auch im Stimmtimbre eine ideale Ergänzung in der Trias der drei Frauen.  

Violeta Urmana ist Klytämnestra. Sie vermag nicht nur die stimmlichen Anforderungen der erst vor kurzem ihrem Repertoire hinzugefügten Partie zu meistern, sondern kann auch die darstellerischen Aufgaben dieser speziellen Interpretation bestens zu erfüllen.    

Das Rollendebut von Lauri Vasar als Orest gelingt ebenso mit hoher Souveränität wie die Darstellung des Aegisth durch John Daszak.  

Generalmusikdirektor Kent Nagano führt das Philharmonische Staatsorchester Hamburg in Riesenbesetzung zu einer noch nicht gehörten Auffächerung der Partitur. Die verschiedenen Orchestergruppen, nicht zuletzt die Holzbläser, leisten wahrhaft  Unerhörtes in den Details ihres Spiels.

Dabei befolgt Nagano die großsymphonische Struktur der Partitur, die nicht in erster Linie die Stimmen begleitet, sondern in welcher sich die Sänger einbringen müssen. Diese schwierige Balance spielte sich mit den grandiosen Sängern im Laufe des Abends immer besser ein. 

Großer Applaus für alle Beteiligten, ohne Einschränkungen für das alternative Regiekonzept, lediglich ein einsamer Buhruf für das Dirigat.  

Bei dieser Produktion handelt es sich um die erste Erarbeitung Tcherniakovs einer Oper von Richard Strauss. Zwei weitere Neuinszenierungen mit dem Regisseur sind in Hamburg geplant, davon auch ein weiteres Werk von Richard Strauss. Man darf gespannt sein.

Achim Dombrowski

Copyrirht: Monika RIttershaus

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