Die Führung der Staatsoper Hamburger mit George Delnon als Intendant und diesem Fall auch als Regie führender Hausherr sowie Kent Nagano als Generalmusikdirektor, waren sich der Schwere des Projektes bewusst. Fidelio, recht eigentlich eher eine Utopie als eine handfeste traditionell-theatralische Oper, hat es in sich und birgt nicht wenige Klippen für das künstlerische Team. Delnon und Nagano wählen eine sehr feinnervige und oberflächlich betrachtet lakonisch-unauffällige Umsetzung, die viele Hörgewohnheiten nicht bedient und die Bereitschaft des Publikums heraufordert, hinzuhören und nachzudenken.
Handlungsverlauf und die Apotheose (sprich: Befreiung des politischen Gefangenen) auf der Bühne werden immer wieder gebrochen und durch zunächst rätselhafte Bilder nachgerade verweigert. Die Blümchentapete auf der Bühne von Kaspar Zwimpfer und dem Licht von Michael Bauer öffnet sich durch seitlich hereinfahrende Bühnenwagen und gibt den Blick frei auf eine Gruppe Gefangener in einer Doppelbetten-Konstellation wie in einer archetypischen Gefängnisbaracke. Die Gefangenen verbleiben über verschiedene Szenen stumme Betrachter der Szenenfolge. Herkunft, Grund und Behandlung der Betroffenen wird nicht klar. Sie kontrastieren in ihrer stummen, leidenden Präsenz u a das Bild der unter Anweisung des Vaters Rocco Klavier spielenden Tochter Marzelline. Höhere Kultur und politische Unterdrückung begegnen sich im bürgerlichen Wohnzimmer des Gefängnisverwalters übergangslos. Ein weiteres rätselhaftes Bild zeigt über weite Teile des Abends eine durch eine ausladende Fensterfront eines 60er Jahre Villenbaus abgegrenzte und eingehegte Natur im Hintergrund, die sich durch die Videokunst von fettFilm immer wieder zu bewegten Bildern des deutschen Waldes, teilweise mit Tiergestalten (Wolf, Bambi) weitet. Dies geschieht vor allem dann, wenn romantisch-träumerische Handlungselemente überwiegen.
Zeitweise wird der stark gestraffte Text auch aus einem alten Radio als Teil des Bühnenbildes gespielt, immer dann zum Beispiel, wenn unerwartete Handlungssprünge und gewissermaßen Wunder wie die Befreiung Florestans verkündet werden. Die gleichfalls zurückhaltenden Kostüme von Lydia Kirchleitner ergänzen dieses Erscheinungsbild: Die wenigen funktionalen Andeutungen werden durch eine unauffällige Alltagskleidung abgelöst. In der Summe entfaltet sich ein vielschichtiges und feinsinniges Kaleidoskop unterdrückter oder verdrängter politischer Wahrheiten, scheinbar gezähmter Natur, sowie eines zweifelnden Glaubens und Hoffens, welches seine Stimme jedoch nicht ganz verliert. Konsequent steht Leonore in ihrem großen Monolog des ersten Aktes unvermittelt vor geschlossenem schwarzem Vorhang wie als eine annähernd ausgeschlossene, verletzliche Flamme der Zuversicht.
Die wesentlichen Handlungsumschwünge wie die unvermittelte Befreiung Florestans erscheinen so unerklärlich wie sie im Textbuch sind. Man mag kaum an sie glauben. Der Minister Don Fernando kommt in so unauffälliger Erscheinung und mit einem schon archetypischen Archiv-Aktendeckel daher, dass man nicht weiß, wann und wie diese Stimmung auch wieder in eine ganz andere Richtung kippen kann. Keiner erscheint (dann) sicher. Die Mehrheit der handelnden Träger des Systems kann sich ganz schnell umorientieren; nur wann, warum und unter welcher Herrschaft ist unberechenbar.So dunkel-bedrohlich und wenig heroisch, idealisiert hat man das noch nicht gesehen. Die Umsetzung verdeutlicht die bei uns Deutschen wie bei vielen Völkern historisch-psychologisch durch viele Versatzstücke im Unterbewusstsein angelegte und unvermeidliche Begleitung/Bedrängung von Historie und Schuld.
Simone Schneider als Leonore steht ihre Frau grandios, sie überzeugt in Erscheinung und stimmlicher Gestaltung in ihrem Rollen- und Hausdebut an der Hamburgischen Staatsoper. Die auch angesichts der teilweise herausfordernden Tempi sicher geführte Stimme strahlt mit der Leuchtkraft einer jungen, liebenden Frau, deren Glaube an ihre Mission nicht wankt. Pech hatte Christopher Ventris, dessen Volumen und Stimmfärbung für die Partie Florestans gut geeignet erscheinen; seine Stimme versagte leider jedoch in der Höhe mehrfach an Premierenabend. Falk Struckmann lieferte in Spiel und Gesang einen überzeugenden, trittsicheren und im besten Sinne routinierten Rocco. Don Pizarro von Werner Van Mechelen und Don Fernando von Kartal Karagedik waren mit ungewohnt schlanken Stimmen besetzt. Das entsprach dem konzeptionellen, reduzierten Format der Inszenierung, wonach beide Vertreter eines Systems oder einer Sozialisation sind, die jederzeit neue Bürokraten und Gefolgsleute ohne besondere charakterliche Ausprägungen hervorbringen kann. Überzeugend Melissa Petit als Marzelline und Thomas Ebenstein als Jaquino.
Nagano lässt das Orchester mit überaus fein austarierten Farben anfangs der Streicher, dann aller Orchestergruppen und später auch der Sänger eine Interpretation spielen, die auf die dunklen, unbestimmbaren, zwielichtigen Klänge der Partitur fokussiert. Musiziert wird generell in breiteren Tempi und rhythmisch streng und staubtrocken ausbuchstabiert. Es fehlen viele der gewohnten Dynamiken und rhythmischen Zuspitzungen. Das ist nicht leicht umzusetzen und durchzuhalten. Orchester, Chor und Sänger werden handwerklich in all ihrer Professionalität gefordert, und Nerven kostet das auch, am Premierenabend zumal. Da mag denn auch der eine oder andere Wackler verständlich sein. Nagano wird mit diesem Dirigat zum engen Partner des Regisseurs, bei welchem bürgerlich-kulturelle Elemente auf verdrängte und unterdrückte Ebenen der Verdrängung stoßen. Heroik und Idealbild einer Utopie werden über weite Strecken in Alltagsbilder eines unlösbaren Miteinanders von Schuld und Widerspruch überführt.
Das ergibt weder szenisch noch musikalisch einen wirkungsvollen Knalleffekt, sondern mündet in den Ausdruck von Reduktion und Nachdenklichkeit. Was davon betrifft uns? Delnon und Nagano versuchen einen Brückenschlag.
Das Hamburger Publikum lehnt jedoch trotz starkem Beifall für Sänger, Chor und das Hamburgische Staatsorchester das Regiekonzept mit starken Buhrufen ab. Offenbar gilt: auf der Bühne muss alles klar sein! Die heute in der Öffentlichkeit viel beklagte undefinierbare gesellschaftliche Unsicherheit, die viele Menschen umtreibt, soll wohl beim Opernhaus draußen vor der Tür bleiben...
Achim Dombrowski
31. Januar 2018 | Drucken
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