Hannover: Haarrisse im demokratischen Staatsverständnis

Xl_b7303d5e-24c0-4004-bada-69537df0ecc6 © Sandra Then

Der Mordfall Halit Yozgat

Oper von Ben Frost

Auftragswerk

Uraufführung 01.05.2022

Besuchte Vorstellung 04.05.2022

Staatsoper Hannover

Die Staatsoper Hannover zusammen bringt zusammen mit dem Schauspiel die Uraufführung eines eigenen Auftragswerkes mit hoch-politischem Thema als Oper in Koproduktion mit dem Holland Festival auf die Bühne 

Der australische Komponist Ben Frost lebt in Island, was ihn ganz und gar nicht davon abhält, eine Oper über ein zutiefst deutsches Thema zu schrieben: mit Der Mordfall Halit Yozgat greift er ein Trauma unsers Landes auf: den NSU-Mord an einem Bürger mit migrantischen Hintergrund in einem Internet-Café in Kassel 2006. Der verstörende Sachverhalt des Falles umfasst auch die ungeklärte Anwesenheit eines Mitglieds des deutschen Verfassungsschutzes, der die Schüsse und den Mord vor Ort nicht bemerkt haben will. Langjährige Untersuchungen, auch forensische Methoden konnten das Verbrechen letztlich nicht aufklären. 

Der Inhalt basiert auf der Gegenrecherche 77sqm_9:26min des Instituts Forensic Archticture, das mit Sitz in London mit modernsten Methoden und in Zusammenarbeit mit globalen NGOs und Medien potentielle Menschenrechtsverletzungen von staatlichen Institutionen untersucht. Das Libretto verfasste die vielfach ausgezeichnete Daniela Danz, die mit verschiedenen Komponisten und Filmemachern zusammenarbeitet und einen Lehrauftrag an der Universität Hildesheim hat.     

Die Oper zeigt auf der Basis forensischer Kriminalmethodik die potentiellen Abläufe an dem Nachmittag auf, an dem der Mord geschah. Alle sieben in dem Internet-Café anwesenden Personen spielen wieder und wieder das Geschehen des relevanten Zeitfensters nach. Die sieben Personen wechseln – auch unabhängig vom jeweiligen Geschlecht – die Rollen im Laufe der Wiederholungen. 

Dieser Wechsel der Personen bei den Rollenspielen – inklusive des Opfers  versinnbildlicht auch, dass jeder Opfer der Vorkommnisse und Verbrechen sein kann. 

Die Bühne von Lisa Däßler und Mirella Weingarten ist auf einem drehbaren Podest installiert, das von Mitgliedern der Technik des Opernhauses wie zur besseren Sicht für das Publikum wiederholt bewegt wird. Im Handlungsablauf werden von der Bühnentechnik die einfachen, weißen Raumelemente des Internet-Café sukzessive auseinandergenommen und weggetragen. Auch dieser Prozess scheint zunächst mehr Durchsicht zu schaffen, verflüchtigt im Effekt jedoch die Beweismittel und kreiert eine Leere des Raumes. Dazu tragen auch die effektvolle Lichtregie von Elana Siberski sowie die sensible Tonkunst von Christoph Schütz bei.     

Der Mord und die nicht erfolgte Aufklärung durch die staatlichen Ermittlungsbehörden, inklusive der Anordnung zur jahrzehntelangen Geheimhaltung der Dokumentationen zum Fall, bedeuten potentiell eine Gefährdung demokratischer Strukturen durch staatliche Ermittlungsbehörden. Grundsätzlich sind alle Bürger – ob mit migrantischen Hintergrund oder nicht  hilflos der Staatsmacht, bzw. dem Versagen demokratischer Strukturen  ausgesetzt.   

Je tiefer der Fall mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchleuchtet wird, desto weniger dringt man zur Wahrheit vor, desto ohnmächtiger fühlt sich der Betrachter. Dem Zuschauer kommt gewissermaßen die Rolle als hilfloser Richter zu, der am Ende nichts erkennen und beurteilen kann.

Die Musik vorn Frost ist nach eigenen Angaben beeinflusst durch die brutalistischen Elemente von Schostakowitsch Streichquartetten sowie diverser Metal Bands. Die Texte werden in eher deklamatorischen Vortragsformen dargebracht.    

Der musikalische Verlauf zeichnet sich durch vier Stadien aus: zunächst überwiegt eine aggressive Vorstellung der forensischen Anordnung mit akzentuierten Streicherpassagen und Schlaginstrumenten. Anschließend entwickelt sich ein Übergang zu tendenziell eher horizontalen Klangelementen mit Gewöhnungs-Effekten. Weitere Szenen werden durch eine starke Überlagerung von Soundeffekten des Internet-Spiels Call of Duty geprägt. Und schließlich verdämmern die Geräusche im Windheulen und Sturmgetöse im arktischen Niemandsland in einem unmenschlichen, zukünftigen Zeitalter einer neuen Eiszeit. 

Die sieben im Internet-Café anwesenden Personen mit den in den Wiederholungen wechselnden Rollenspielen werden von hoch-engagierten Sängern der Staatsoper Hannover, Céline Akçağ, Tahnee Niboro, Gudrun Pelker, Yannick Spanier, Richard Walshe und Sasha Zarrabi sowie dem Schauspieler Mathias Max Herrmann zur eindringlich zur Darstellung gebracht. Die vermummten und Innuit-ähnlichen Personen der letzten Szene im ewigen Schnee verkörpern Mitglieder der Statisterie der Oper.   

Zwölf Musiker des Niedersächsischen Staatsorchesters, überwiegend Streicher und Schlagzeuger sind im hinteren Bereich der Bühne postiert. Florian Groß hat die engagierte musikalische Leitung des Abends. Ihm gelingt zusammen mit dem Team eine ausdrucksstarke Umsetzung der Klang- und Sprachwelten und trotz der schwierigen Positionierung im Hintergrund eine erfolgreiche Wahrung der Balance aller Beteiligten.  

Traurig ist nicht nur der Inhalt des Werkes, sondern auch die Tatsache, dass die zweite Aufführung nach der Live-Premiere vor außerordentlich spärlich besetzten Saal des Großen Hauses der Staatsoper Hannover stattfindet. Einige der wenigen Zuschauer verlassen bereits nach 20 Minuten irritiert den Saal. Interessiert das Thema nicht, kommt nicht einmal jemand aus Neugier oder hat das Theater nicht genug Öffentlichkeitsarbeit betrieben? Man kann nur hoffen, dass in den Nachfolgevorstellungen mehr Zuschauer ins Haus finden. 

Die Aufführungen beim Holland Festival finden im Juni in Amsterdam statt. Vorab war anlässlich der zu Corona-Zeiten geplanten und verschobenen Uraufführung bereits ein vielbeachtetes Video der Produktion entstanden. 

Achim Dombrowski

Copyright: Sandra Then

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