Idoménée von André Campra bei den Barocktagen in Berlin

Xl_3bb51d72-3fbe-43ed-ba9a-52ccacb0a224 © Bernd Uhlig

Staatsoper Unter den Linden Berlin

Idoménée

Musik von André Campra

Text von Antoine Danchet

Premiere 5. November 2021

Die Staatsoper Berlin eröffnet ihre diesjährigen Barocktage mit Idoménée des 1660 in Aix-en-Provence geborenen Komponisten Andre Campra mit dem Libretto von Antoine Danchet. 

Das Werk entstand in der Zeit zwischen den Schaffensphasen der beiden bekannteren Vertretern der französischen Barockoper Lully und Rameau. Die Oper kam 1712 in der ersten Fassung am Théâtre du Palais-Royal in Paris zur Uraufführung. Die der nunmehr in Berlin zugrunde liegende zweite Fassung kam 1731 ebenfalls in Paris zur Aufführung.

Die heute bekannteste, spätere Vertonung des Stoffs stammt von Wolfgang Amadeus Mozart, der seine Oper 1781 auftrags des Münchner Hofs ausdrücklich auf der Basis der Textvorlage als italienische opera seria nach dem Libretto von Giambattista Varesco  komponierte.

Die Geschichte weist die in der Epoche beliebten Handlungselemente aus der Mythologie auf: um zu Ende des trojanischen Krieges nach über zehn Jahren in seine Heimat zurückkehren zu können, verspricht Idomeneo den Göttern, den ersten Menschen nach Betreten des heimatlichen Landes zu opfern. Mit Entsetzen trifft idomeneo nach dem Landgang auf seinen eigenen Sohn Idamante. Erweitert ist die Geschichte mit den Irrungen durch zwei Prinzessinnen - Illia und Elektra - , die in politisch relevante Liebesverbindungen und -komplikationen hineinwirken. Anders als in der italienischen Oper der Mozartzeit gibt es kein lieto fine – die Opferung seines Sohnes wird am Schluss – in einem fast unerwarteten Handlungsschwenk - von Idomeneo grausam vollzogen.   

Im Rahmen der vertiefteren Befassung und Schatzsuche von Bühnenwerken aus der Barockzeit initiierte William Christie Anfang der 90er Jahre mit dem Ensemble Les Arts Florissants zunächst eine Folge von konzertanten Aufführungen des Werkes, aus der dann auch die einzig existierende Tonträgereinspielung hervorging. 

Im September 2021 hat die Opéra de Lille – in Koproduktion mit der Staatsoper Berlin - eine Neuproduktion herausgebracht, die jetzt auch Unter den Linden zur Aufführung kommt. 

Anders als in den heute vertrauten italienischen Opernstrukturen der Zeit sind nicht die Arien die Hauptträger und Attraktionen der emotionalen Entwicklung. Vielmehr weist die musikalische Struktur – im Rahmen eines mitunter einerseits recht weitschweifigen Textes, andererseits abrupten Handlungsentwicklung - ein vielschichtiges Geflecht von Formen auf. So verbinden sich oft fast unmerklich Elemente unterschiedlicher Rezitativformen mit kurzen ariosen Passagen und – traditionell für die Epoche – Ballettmusiken oder bildhaften musikalischen Einschüben, etwa um das Eingreifen göttlicher Einflüsse auf die Handlung zu verdeutlichen.  

Die künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Werk bzw. dessen Realisierung - trotz der heute ungewohnt Entwicklung der äußeren Handlungsabläufe - als intensiv empfundenes, abendfüllendes Opernerlebnis erfordert einen besonders empathischen, kreativen Umgang mit dieser anspruchsvollen Struktur sowie viel Erfahrung mit den Eigenarten der barocken Musik. Um überhaupt zu einer eigenständigen Interpretation der musikalischen Form zu gelangen, ist eine langjährige musikalische Zusammenarbeit und ein entwickeltes, tiefes Vertrauen der musizierenden Künstler unerlässlich.           

Genau das leistet Emmanuelle Haïm mit dem Ensemble Le Concert d’Astrée. Die Dirigentin hat bereits mit William Christie in den 90er Jahren gearbeitet. 2000 gründete sie mit Le Concert d’Astrée ihr eigenes Ensemble. Das Ergebnis ist atemberaubend. Es gibt keine noch so kleine musikalische Phrase, keinen Übergang, keine Pause oder besondere tonale Mischfärbung, die nicht zu einem vollkommen organischen Beitrag bei der klanglichen Umsetzung der Partitur führt. Der Abend wird ganz entschieden vom Orchesterensemble getragen.  

Zum Ensemble von Le Concert d’Astrée gehört auch ein gut zwanzig-köpfiger Chor unter der Leitung von Denis Comtet, der mit allen Mitgliedern des Ensembles zu einer bruchlosen Einheit verschmilzt und den spezifischen musikalischen Eigenheiten der Partitur bestens entspricht. 

Der Regisseur Àlex Ollé – Mitglied der katalanische Theatergruppe La Fura del Baus –  und sein Team thematisieren stark die Geschichte vor der eigentlichen Handlung. Es sind die Traumata des vorangegangenen, langen Krieges, die die Charaktere prägen. Dies wird auch im Bühnenbild von Alfons Flores deutlich. Im Wesentlichen werden auf beweglichen Plexiglaswänden Projektionen von typisierten Einrichtungsgegenständen aristokratischer Räume der Epoche wie große Spiegel oder Kronleuchter projiziert. Dadurch wird einerseits ein Ambiente der Barockzeit evoziert, andererseits alle Ausstattungsmerkmale entmaterialisiert. Durch die zudem überwiegende dunkle Farbgebung der Szene entsteht ein verloren-abgründiger Kosmos, in dem die Charaktere agieren.

Die Kostüme von Lluc Castells und Haartrachten deuten ansatzweise den Stil der Epoche an, bewegen sich ansonsten in Zeitlosigkeit. Die Lichtregie von Urs Schönebaum sowie die Videokunst von Emmanuel Carlier vervollkommnen die Szenerie und bewirken nachhaltig die Anmutung der Überraschungs – und Maschineneffekte, die das Barocktheater auszeichnet.     

Das grandiose Sängerensemble ist identisch mit den Mitwirkenden der Aufführung in Lille. Unter den glänzend besetzten Hauptrollen wird das starke Damenterzett von der Illione der Chiara Skerath, der Électre von Hélène Carpentier und der Venus von Eva Zaïcik getragen. Die Titelfigur wird imposant von Tassis Christoyannis verkörpert, die anspruchsvolle Partie des Idamante von Samuel Boden. Die weiteren Mitwirkenden werden ausnahmslos durch in der Barockmusik versierte Sängerdarsteller verkörpert.

Auch der Tradition der Ballettoper wird umfangreich entsprochen. Die Compagnie Dantzas mit zehn Tänzern und der Choreographie von Martin Harriague bereichert das szenische Geschehen wirkungsvoll. Die in Teilen exaltierte Gestik mag einer Umsetzung des höfischen Geltungswillens der Zeit entsprechen. Die Kostüme erinnern mitunter an in den 80er Jahren aufregend empfundene Stilversuche mit reichlich Strapsen etc.  

Das Publikum feiert alle Beteiligten der Produktion mit vielen Rufen und langanhaltendem Applaus. Begeisterungsstürme für Emmanuelle Haïm und ihr Ensemble Le Concert d’Astrée.

Achim Dombrowski

Copyright: Bernd Uhlig

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