Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin
György Ligeti
Le Grand Macabre
Premiere am 25. September 2021
besuchte Vorstellung am 29.September 2021
Das Musiktheater in Schwerin startet die Saison mit einer Herausforderung
Der neue künstlerische Leiter des Mecklenburgischen Musiktheaters, Martin G. Berger, schont weder sein neues Team noch sich selbst und wagt sich gleich zu Beginn seiner ersten Spielzeit im Mecklenburgischen Staatstheater an einen Motor der Avantgarde, nämlich György Ligeti, bzw. seine einzige 1978 in Stockholm uraufgeführte Oper Le Gand Macabre.
Ligeti lebte von 1923 bis 2006. Sein bekanntestes Werk ist das bei den Donaueschinger Musiktagen 1961 uraufgeführte Orchesterwerk Atmospheres, bei welchem sich 87 Instrumentalstimmen zu einer Klangfläche zusammenschmelzen. Besondere Bekanntheit erlangte das Werk durch die Filmmusik in Stanley Kubricks Kultfilm 2001 Odyssee im Weltraum aus dem Jahre 1968.
Die Vorlage der Oper geht zurück auf Michel de Ghelderode 1936 entstandenes Schauspiel, welches in der Art eines von Hieronymus Bosch inspirierten, farcenhaften Bummels gleichsam den heraufziehenden europäischen Faschismus aufzuzeigen scheint. Die Erstfassung wurde 1996 vom Komponisten revidiert und wird heute in der neuen Version ohne Pause in vier Bildern mit Zwischenspielen gezeigt.
Die Handlung verläuft in allerlei absurden, ursprünglich auch zotenhaft gemeinten Szenen, die ursprünglich auch einmal als Puppenspiel konzipiert waren. Das übergeordnete Thema behandelt die Erlösungssehnsucht des zwischen Leben und Tod sowie Gut und Böse geschüttelten Menschen. Dabei erscheint der Tod in Person Nekrotzars und verkündet im Fürstentum Breugelland das Herannahen des Jüngsten Gerichts. Fürst Go Go, der Landstreich Piet vom Fass und der Astrologe Astradamors beugen sich dem einfach nicht und verweigern so dem Weltuntergang. Sie geben sich lieber dem Alkohol hin. Mit von der Partie ist eine leibhaftige Venus, zwei Minister – weiß und schwarz, die in der Aufführung in Tierkostümen mit den Bezeichnungen „Wut“ und „Angst“ auftreten, und nicht zuletzt Gepopo, die Chefin der Geheimen Politischen Polizei.
Der Regisseur steigert diese Umsetzung nicht auf eine weitere hybride Ebene, sondern erdet die Absurditäten der Handlung durch einige Ankerpunkte. So spielt die Oper in der Phantasie eines Jungen, der übergangslos von der Lektüre seiner Comics in eine halbreale Welt seiner Imagination getragen wird. Das Konzept von Berger impliziert, dass die aktuelle politische oder soziale Situation so absurd sind, dass in den unübersichtlichen gesellschaftlichen Verhältnissen mit medialer Überreizung ein Fluchtort notwendig wird, aus dem heraus ein junger Mensch seine Phantasie eigenständig entwickeln kann.
Statt also in der Inszenierung eine weitere Abstraktionsebene hinzuzufügen oder mit weiteren Verfremdungen zu arbeiten, macht das Konzept den verletzlichen Menschen inmitten seiner Neugier und Ängste szenisch sichtbar. Immerhin erarbeitet Berger damit eine szenisches Umsetzung, während nach einer langen Phase der Bühnenrealisierung seit der Stockholmer Uraufführung heute tendenziell eher Konzertfassungen der Oper zu Gehör gebracht werden.
Die Spielebenen wechseln in den phantastischen Bildern von Sarah-Katharina Karl, indem das Publikum zu den ersten beiden Bildern unmittelbar auf die Bühne gebeten wird und dort auf in Kreisform aufgestellten Stühlen sitzt. Die Aufmerksamkeit wird unmittelbar und stark auf die in Armlänge entfernt agierenden Sänger sowie die von Roman Rehor entworfene, überwältigende Videokunst gelenkt, so dass der Betrachter zunächst gar nicht wahrnimmt, dass sich unter ihm die Drehbühne in Bewegung gesetzt hat. Sie wird während des ersten Teils sich mehrfach drehen und wieder stehen bleiben und so den unwirklichen Charakter der Geschehnisse für den Betrachter weiter entmaterialisieren.
Dabei sitzt man zunächst im Ambiente eines Varieté Theaters der 20er Jahre, historisch vor dem letzten großen Weltuntergang des Zweiten Weltkrieges. Doch bald öffnen sich in den Seitenwänden dieser Umgebung Leinwände, die auch als Projektionsflächen für unterschiedliche Videokunst zur Verfügung stehen, in Räume, die immer mehr Personal der Handlung freigeben, das von dann an physisch um die kreisenden Zuschauer agiert.
Die Kostüme von Esther Bialas liefern dabei alle Phantasie, die ein Jugendlicher für diesen Ritt durch eine Comicwelt oder den daraus folgenden Albtraum entwickeln mag.
Während des Zwischenspiels zum dritten Bild wechseln die Zschauer in das Große Haus des Mecklenburgischen Staatstheaters, um klassisch in den festen Theatersesseln des Hauses und im üblichen Abstand zur Bühne zu verweilen.
Fürst Go Go wird gesungen vom Countertenor Georg Bochow, der als schwächlicher Charakter und bis zum Wahnsinn mit aberwitziger Geste von seinem weißen und schwarzen Ministern - gesungen Marius Pallesen und Sebastian Krogel - durch die Szene und den Zuschauerraum gejagt wird. Die Minister schüren Wut und machen Angst mit solcherlei Zitaten wie etwa „Das wird man noch mal sagen dürfen...“, „...alles Ausländer...“ wie sie nicht-demokratische Parteigänger aktuell in Deutschland vertreten.
Der Junge liest am Anfang seine Comichefte und durchlebt danach mit und unter den Zuschauern die immer wilder kreisende Szene. Er wird von Martin Gerke stimmlich und darstellerisch überzeugend vertreten.
Vom überwiegend mit eigenen Hauskräften besetzten Ensemble seien hier wenigstens die Mescalina von Gala El-Hadidi, der Astradamors von Nicholas Isherwood, der Nekrotzar von Brian Davis, sowie Gepopo und Venus von Morgane Heyse erwähnt. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, ist die wilde Szene außerdem mit Tanzstatisten im Revue-Outfit unter der Choreographie Thomas Helmut Heep angereichert.
Für die Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin unter der Leitung von Generalmusikdirektor Mark Rohde reicht der Orchestergraben nicht aus. Wesentliche Teile des umfangreichen Schlagzeugs und der Blechbläser sind in den Proszeniumslogen links und rechts oberhalb des Grabens platziert.
Eine gewaltige und äußerst gelungene Leistung der Schweriner Bühne unter seinem neuen Chef des Musiktheaters!
Das Publikum folgt gebannt dem Geschehen und applaudiert lange und heftig.
Achim Dombrowski
Copyright Fotos: Silke Winkler
02. Oktober 2021 | Drucken
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