LA SONNAMBULA
(Vincenzo Bellini)
Premiere am 26. Februar 2023
Deutsche Oper am Rhein
Opernhaus Düsseldorf
Die 1831 von Vincenzo Bellini und dem Textdichter Felice Romani auf Basis eines Librettos von Eugen Scribe geschaffene Oper spielt in einem Schweizer Alpendorf, in welchem die Waise Amina ihren Bräutigam Elvino heiraten will. Nachdem der verschollene geglaubte Sohn des verstorbenen Grafen in das Dorf zurückkehrt, nähert sich Amina schlafwandelnd Rodolfo an und wird schließlich von den Dorfbewohnern in dessen Bett auf einem blutverschmierten Laken aufgefunden. Es scheint sich eine alte Geschichte zu wiederholen: der Sohn des alten Grafen musste seinerzeit fliehen, nachdem er ein einfaches Mädchen, die Mutter Aminas, geschwängert hatte. Die Dorfbewohner glauben noch immer, dass infolge dieser Tat zur Geisterstunde eine rastlose Seele das Dorf durchwandert. Für alle steht unumstößlich fest, dass Amina ihren Elvino mit dem jungen Grafen betrogen hat. Elvino sagt sich von ihr los; er will die ihm zuvor verlobte Lisa heiraten. Der Graf beteuert, dass Amina unschuldig ist. Erst durch ein Kleidungsstücks Lisas im Zimmer des Grafen als weiteres Indiz kann Aminas Stiefmutter Teresa die aufgebrachte Situation beruhigen. Elvino heiratet Amina. Alles klar ? – Scheinbar ja.
Anders als Jossi Wieler und Sergio Morabito für Stuttgart 2012, und die Deutsche Oper Berlin 2019 – ausgestattet mit einer der unverkennbaren Wartehallen des Lebens von Anna Viebrock – löst Johannes Erath in Düsseldorf die realen Elemente der Handlung und konkreten sozialen Bezüge des Schweizer Dorfes weitgehend auf. Er schafft damit eine bezwingende Transformation, die auf die Zweifel und Brüchigkeit damaliger wie auch aktueller gesellschaftlicher Strömungen verweist.
Sicher, es sind die Berge zu sehen, der Schnee, die Schweizer Flagge und ansatzweise traditionelle Schweizer Trachten, aber alle diese Elemente fungieren als Versatzstücke oder Stumme Zeitzeugen. Die Mechanismen von gegenseitiger Kontrolle, eines fragwürdigen Moralbegriffs, des Voyeurismus und des potentiellen Inzests, die hier gedacht und empfunden werden, können ebenso im Kopf des heutigen Betrachters stattfinden. Sie sind nur garniert mit Schweizer Folklore, die sich rasch verflüchtigt, wenn etwa stumme Dienerfiguren in Andeutungen von Trachten unvermittelt wie Traumerscheinungen mit überlangen Fräcken erscheinen und die Handlung symbolistisch-still und unheimlich-vieldeutig begleiten. Sie sind die gate keeper zu einer anderen, unkontrollierten, für Menschen unbeherrschbaren Seite der Welt der Romantik.
Die Verschränkung von Zeit- und Bedeutungsebenen wird auch auf andere Weise hervorgerufen. Das Bühnenbild von Bernhard Hammer, die Kostüme von Jorge Jara und die Videoregie von Bibi Abel wirken auf magische Weise zusammen. Die Videokunst ist in der Oper über die Jahre einen langen Weg gegangen, um diese feinsinnig-subtile Stufe zu erreichen, die nicht die Sänger optisch dominiert oder erschlägt, sondern vielmehr organisch-integrierter, gewissermaßen demütiger Teil der gesamten Szene zu werden.
Die Bühne ist in zwei Teile geteilt: in der oberen Hälfte sind durchnummerierte Säulen oder Balken zu sehen, die zu einer größeren Baustruktur zu gehören scheinen. Ein Lagerraum für eine industrielle Produktion, oder ein anderweitig übergroßes Ordnungsprinzip des Rationalismus, der im Zuge von Aufklärung und Industrialisierung Raum greift? In dieser gleichsam mathematisch geordneten Welt ereignen sich jedoch zugleich die irrealsten Momente mit rätselhaften Bildwelten. Hier erleben wir auch Amina mit ihrem verwehenden Abschiedsgesang nach ihrem (scheinbaren -?) Tod.
Der untere Bühnenteil ist der Ort des gesellschaftlichen Zusammentreffens. Hier agiert in seiner Vielschichtigkeit der Chor als lauernder Nachbar, dann als singender Revuechor, manchmal gar als kommentierender Chor wie im antiken Theater, oder – ganz zum Schluss - in den Gesten des Hier und Jetzt. Wichtig ist die changierende Bewegung. Alle wechseln ihre Rollen übergangslos. Es bleibt unklar, ob das Kollektiv aktiv oder passiv ist, oder – wie beim Billardspiel – sich wie Kugeln untereinander durch Anstöße ihre Energie – in ganz unerwarteter Form und mit ungewissem Ausgang - weitergeben. Hier finden auch die dramatischen Auseinandersetzungen der Protagonisten statt.
Das Ineinandergreifen all dieser Impulse und widersprüchlichen Charaktere und Handlungen schafft eine irreale, nach innen gerichtete, somnambule Zwischenwelt, die für die Titelfigur Amina aber auch eine Balance zwischen Leben und Tod bedeutet.
Dabei ist der Handlungsverlauf nicht nur tragisch angelegt: die Form der opera semiseria steht für die Unsicherheit des Lebensgefühls in einer Phase zwischen Spätabsolutismus und Restauration. Die geistige – äußerlich mitunter komische - Verwirrung über alle Personen und Schichten wird in der ‚Rossini-Schaukel‘ – in der alle Mitwirkenden wie in Trance schwanken – wie in einer Replik auf ein Stilmittel des Regisseurs Jean-Pierre Ponnelle choreographisch verbildlicht.
Für das Ende werden zwei Versionen geboten. Im Ensemble ‚Ah! Non credea mirarti...‘ singt Amina ihre todgeweihten Gesangslinien im oberen Bühnenraum schon im Jenseits. In der realen, der unteren Bühne, sieht man ihren Leichnam – von den Trauernden umgeben - aufgebahrt.
Zum nachfolgenden Schlussensemble des Lieto Fine ist sie jedoch wieder lebendig. Der Zuschauer wird also gezwungen, sich zu fragen, welchem Szenario er folgen will. Was ist fake news? Woran glaubt er? Er muss sich demnach bei Amina für seine eigene, für ihn selbst authentische Version, d.h. für deren Weiterleben oder ihren Tod, entscheiden. Dabei bleibt jede Entscheidung ungewiss und gebrochen. Amina, Elvino und die Dorfgemeinschaft werden den Gespenstern und Prägungen der Vergangenheit, der eigenen Geschichte, den Zweifeln an der Zukunft und dem eigenen Gewissen nicht entkommen.
Niemand im Düsseldorfer Publikum wollte den Tod dieser Amina: die junge, grandiose australisch-mauretanische Sopranistin Stacey Alleaume gab mit dieser mörderischen Titelpartie ihr in jeder Hinsicht gelungenes Deutschland-Debut. Die Klangbögen, die Präzision der Koloraturen, die ergreifende Ausdruckskraft machen den Abend zum Erlebnis. Dabei besticht ihr spezifischer, unerschrockener Einsatz, der es ihr erlaubt, die gewaltigen Anforderungen dieses Gesangspartes mit einer unbändigen jugendlichen Risikofreude anzugehen.
Der Elvino des spanischen Tenors Edgardo Rocha überzeugt voll und ganz in seiner anspruchsvollen Aufgabe. Seine Stimmführung, gesangliche Präzision und klangschöne Modulierung ergreifen unmittelbar. Obwohl in diesem Operngenre gerade die Frauen regelmäßig an die Grenzen des Wahnsinns und darüber hinaus getragen werden, spielt Rocha den Part seiner verzweifelten Liebe und totalen Verwirrung so einfühlsam, dass man sich nicht gewundert hätte, wenn auch er in den Modus einer männlichen Wahnsinnsarie gewandelt wäre.
Die wiedergefundene und dann doch verlassene Lisa singt Heidi Elisabeth Meier mit teilweise energisch-komischem Aplomb. Die Anforderungen an diese Partie sind nicht zu unterschätzen – sie wurden von der Sängerdarstellerin souverän bewältigt.
Graf Rodolfo ist Bogdan Taloş. Der sonore und nachgerade balsamische Bass des Sängers und sein souveräner Auftritt lassen ihn als anscheinend wissenden Ruhepol erscheinen. Was er wirklich weiß oder nur in überlegener Haltung ausstrahlt, bleibt teilweise im wirkungsvollen, romantischen Halbdunkel. Ein überlegenes Portrait.
Die Stiefmutter Teresa von Katarzyna Kuncio vermittelt an den entscheidenden Stellen mit ihrer darstellerischen und gesanglichen Autorität entscheidende Impulse. Valentin Ruckebier als Alessio bringt seine ungestüme Jugendlichkeit erfrischend zum Ausdruck. Man darf gespannt sein, wie sich dieser vielversprechende Sänger weiter entwickelt. Bohyeon Mun als Notar rundete das Ensemble ab.
Der Chor der Deutschen Oper am Rhein unter der Leitung von Patrick Francis Chestnut sang nicht nur die variantenreichen Passagen mit Verve und Klangschönheit, vielmehr hatte das Kollektiv auch einen gehörigen Spaß an der immerwährenden, geheimnisvollen Wandlung seiner verschiedenen Rollen.
Den Düsseldorfer Symphonikern unter der Leitung von Antonio Fogliani gelang ein feinsinniges, abgestuftes Klangbild, das rhythmisch und in der Formung der weit ausholenden Klangbögen die wahnhaften Szenerien zusammen mit der Bühne erst in dieser Perfektion entstehen ließen.
Das ohnehin applausfreudig rheinische Publikum jubelte und feierte lange und ausgiebig Sänger, Orchester und das Regieteam.
Achim Dombrowski, Hamburg
Copyright: Monika Rittershaus
01. März 2023 | Drucken
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