Oper Frankfurt
Lulu
(Alban Berg)
Premiere am 03. November 2024
Besuchte Aufführung: 09. November 2024
Bei der Wahl der Fassung für die Neuproduktion von Alban Bergs Lulu wählt die Oper Frankfurt gewissermaßen den traditionellen Weg: drei-aktige Cerha-Fassung.
Alban Berg hat zwölf Jahre an dem Werk gearbeitet, verstarb vor dessen Vollendung. Die Uraufführung des Lulu-Fragments 1937 in Zürich fand zwei Jahre nach seinem Tod statt. Nach der Vollendung des dritten Aktes durch Friedrich Cerha und deren bahnbrechender Uraufführung 1979 an der Pariser Oper konnte man sich zunächst nicht vorstellen, die Oper wieder in der zweiaktigen, fragmentierten Fassung aufzuführen.
Wichtige Produktionen sind danach dann aber doch einen anderen Weg gegangen. So brachte Kent Nagano in Hamburg mit Christoph Marthaler 2017 eine Version, in welcher jede Note, die Berg noch selbst geschrieben hat, erklingt und zusätzlich sein Violinkonzert. Dadurch wird der fragmentarische Charakter des Stücks wieder hervorgehoben, wie er auch in gewisser Hinsicht der Zusammenstellung der literarischen Vorlagen entspricht, die nicht ohne Bruchstellen ist. Das Theater Bremen vergab 2019 dann gar den Auftrag für eine neue Neufassung des dritten Aktes an den Komponisten Detlef Heusinger.
Der Regisseurin Nadja Loschky überführt die von Wedekind um die Jahrhundertwende geschriebenen Theaterstücke Erdgeist und Büchse der Pandora in die von Alban Berg in allen Extremen empfundene Welt der Zerstörungen des Ersten Weltkriegs. Daneben stehen Elemente des Lebensgefühls der Goldenen Zwanziger und des Aufkeimens des Nationalsozialismus.
Loschky ist es wichtig, zwei Ebenen zu zeigen und voneinander abzusetzen: zum einen die der realen Welt, in der Lulu Erfahrungen des Missbrauchs und der Prostitution durch Männer erleidet.
Daneben als zweite Ebene die Wirkung des Mythos Lulu: eine bigott-zivilisatorische, bürgerliche Welt, deren Verdrängungsmechanismen die als Schmutz empfundenen Triebe des Unkontrollierbaren der menschlichen Kreatur, der Zügellosigkeit von Begehren, Sex und Natur unterdrücken will, was ihr jedoch nie gelingt.
Die Regisseurin führt dazu auch die stumme Figur der Anima ein – von der Tänzerin Evie Poares dargestellt - die Lulu durch die Szene begleitet – eine stille Wegbegleiterin und Sinnbild für Lulu wie sie einmal gewesen sein mag.
Die Ambivalenz des Schicksals der Frau als Opfer und Täterin wird bei diesem Konzept Loschkys bei Lulus Selbstmord auf den Höhepunkt getrieben. Dem Wiedergänger des Mannes, den sie als Prototyp des kalkulierenden Machtmenschen gesellschaftlich zerstört und getötet hat, und der als Jack the Ripper zurückkehrt und sie in der Vorlage ersticht - diesem Monster wirft sie sich selbst ins Messer. Damit nimmt sie dem Mann die Kontrolle über seinen Rachemord, fügt sich zugleich in die Ablehnung einer Gesellschaft, die keinen Platz für sie hat und erringt dadurch ihre einzige eigene Freiheit, nämlich diese Welt selbstbestimmt zu verlassen.
Der Leidensweg Lulus beginnt hier mit der drastischen, symbolhaften Darstellung ihrer gewissermaßen schaurig-mythischen Geburt: sie wird von Mitgliedern der gelangweilten bürgerlichen Gesellschaft, eingetaucht in braun-schmierigem, triefenden Kot widerwillig und entrückt aus einem Loch wie aus der Unterwelt gezogen.
Die Begegnungen in der realen Welt spielen sich dann zunächst in immer helleren, mit beige-pastell geprägten Ausstattungsfarben ab (Bühne Katharina Schlipf und Kostüme Irina Spreckelmeyer - die überzeugend-wirksame Lichtkunst verantwortet Jan Hartmann). Die Bewegungschoreographie großer, zylindrisch entworfener Bühnenbauten, die sich durch eine ausgeklügelt gefahrene Drehbühne unberechenbar mal gleichgerichtet, mal gegeneinander bewegen, bewirken trotz ihrer massiven Räumlichkeit zusammen mit der Farbgebung einen zunehmend unwirklichen Charakter. Eine effektvolle Zäsur und Pause wird nach Lulus Lied gesetzt – der Erklärung ihrer selbst mit den Worten: “...Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab...“ Farben und Atmosphäre schwärzen sich im dritten Akt mit dem Niedergang komplett ein.
Nadja Loschky gelingt mit ihrem Team damit eine konzeptionell ausgefinkelte, schlüssige und im Handwerk von Personenführung und Darstellung überzeugende Umsetzung.
Für einen weiteren künstlerischen Höhepunkt steht auch (wieder) das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung seines Generalmusikdirektors Thomas Guggeis. In ungewöhnlicher Klarheit gelingt ein Klangbogen, der die bis ins kleinste Detail systematisierten Strukturen der Partitur in sich vereinigt und auf unangestrengte und organische Weise hörbar macht. Das gilt in gleicher Weise auch für die unzähligen, mehr als anspruchsvollen Soloparts vieler Instrumentalgruppen.
Diese ausgewogene, nie durch Überdruck oder zu dominierende Lautstärke charakterisierte Klangwelt erlaubt es auch Brenda Rae in der Titelpartie, ihre Mammut-Aufgabe über alle dynamischen Grade und Tongebungen mit irisierender Klangschönheit zu erfüllen. Die Stimme ist trotz der verzwickten Höhen nie kreischig oder scharf. Die Sängerin ist gerade in den ruhigeren Piano-Passagen mit delikatem und zurückhaltendem Orchesterklang eingebettet und unterstützt, der dieses Zusammenspiel zu einem glückhaften künstlerischen Ereignis werden lässt.
Ein grandioses stimmliches uns darstellerisches Portrait des Lulu verfallenden gesellschaftlichen Machtmenschen Dr. Schön und seines Wiedergängers Jack the Ripper gelingt Simon Neal. Die bei aller männlichen Gewaltbereitschaft seiner Hörigkeit unterlegene Natur vermag der Charakterdarsteller stimmlich und schauspielerisch schmerzhaft-tragisch zu verkörpern.
Claudia Mahnke fügt mit der lesbischen Gräfin Geschwitz, die ihrer angebeteten Lulu alles opfert und doch keine Zuneigung, geschweige denn Liebe erfährt, ein weiteres ergreifendes Rollenportrait ihrem bewunderungswürdigen Repertoire hinzu.
Auch AJ Glueckert als Alwa und Alfred Reiter als Schigolch präsentieren ihre gesanglich anspruchsvollen und psychologisch vielschichtigen Partien mit überzeugender Präsenz und Differenziertheit.
Theo Lebow, Kihwan Sim und Bianca Andrew überzeugen in weiteren Rollen mit stimmlicher Meisterschaft und Spielfreude.
Das Publikum feiert die Leistungen der Künstler lange mit stehendem Applaus und vielen bravi-Rufen.
Achim Dombrowski
Copyright: Barbara Aumüller
13. November 2024 | Drucken
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