Elbphilharmonie Hamburg
Johann Sebastian Bach
Matthäus Passion
Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent
Philippe Herreweghe
Hamburg am 28. März 2024
Zur Tradition der ungezählten Aufführungen der Bach’schen Passionen zur Osterzeit überall in Europa oder anderen Teilen der Welt tragen Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent auch dieses Jahr in besonderer Weise bei. Mit der Matthäus Passion gastiert das Ensemble mit ausgewählten Sängerpersönlichkeiten in Polen, Italien, Holland, Belgien Deutschland und Österreich.
Philippe Herreweghe – seit Jahrzehnten einer der führenden Barock-Spezialisten – gründete den Chor des Collegium Vocale Gent bereits im Jahre 1970 mit dem Ziel, transparente, historisch-orientierte Bach- und Barockaufführungen in hoher Qualität anzubieten. Sehr schnell wurden namhafte Barockdirigenten wie Gustav Leonhardt, Ton Koopman und Nikolaus Harnoncourt auf das Ensemble aufmerksam.
Über die Zeit erweiterte Herreweghe das Repertoire deutlich weiter in die Romantik, bis zu Werken von Anton Bruckner. Dabei tritt der Chor in sehr flexibler Zusammensetzung je nach Umfang und Stilistik der aufgeführten Werke mit bis zu 80 Mitwirkenden auf und arbeitet mit einer Vielzahl namhafter Orchester unter bedeutenden Dirigenten.
Seit 1989 besteht außerdem das Orchester des Collegium Vocale Gent, das sich ebenfalls je nach Bedarf aus erstklassigen internationalen historisch-orientierten Barockinterpreten zusammensetzt, um gemeinsam mit dem Chor aufzutreten.
Es gibt eine Vielzahl von Tonträgeraufnahmen der Ensembles in unterschiedlichen Zusammensetzungen und mit Werken diverser stilistischer Perioden.
Der Dirigier- und Musikstil der Bachinterpretation von Herreweghe ist geprägt durch einen warmen, leuchtenden Grundton sowie das Nachspüren einer der Partitur inhärenten, strukturellen Rhythmik und Agogik, die dem musikalischen Fluss durch entsprechende – manchmal nur sehr unterschwellige – Akzentuierung eine spezifische Energie und Dynamik verleiht, die sodann die Sänger zu einem sehr spezifischen Klangkosmos vervollständigen. Alle Solisten singen auch in den Chorszenen und Chorälen mit.
Der Evangelist als übergeordneter, emotional stark beteiligter Erzähler verkörpert dabei die zentrale Partie. Julian Prégardien singt, spielt und verkörpert diesen Part des Evangelisten in einzigartiger Weise. Der Sänger versteht es zunächst, jede Silbe absolut textverständlich vorzutragen. Gleichzeitig vermag Prégardien eine angemessene Sprach- und Gesangsgestik für jedwede Handlung, jeden Charakter, jede Stimmung bzw. jedes menschliche Empfinden mit differenzierter Farbgebung auszugestalten. Man kann unmittelbar die zur Entstehungszeit geführte Diskussion um eine Operntheatralik des Werkes nachvollziehen. Die am Lied geschulte und disziplinierte Stimme wird dabei spielerisch auch dem Großen Saal der Elbphilharmonie gerecht.
Die drei musikalischen Ebenen der Passion - die Erzählebene, die Ebene der handelnden Charaktere und die Reflexionsebene in den Arien und Chorälen - werden so mit filigraner und sensibler Gestaltung übergangslos, fast unmerklich und spannend wie in filmischer Überblendung vermittelt. Dabei dienen die so plastisch vermittelten Erzählelemente zugleich jeweils als perfekte Überleitung und Plattform für die Darstellungen der weiteren Sängerinnen und Sänger.
Florian Boesch portraitiert einen erdverbundenen Jesus, der die Stationen des Leidensweges in der feinsinnigen Darstellung von Leid, der Demut und Hingabe mit unsentimentaler Geradlinigkeit verkörpert.
Philipp Kaven gibt dem Profil des Pilatus angemessenes Gewicht.
Der Countertenor Hugh Cutting gestaltet die Alt-Partie mit großer Leidenschaft und Emphase. Die vielschichtige Modulationsfähigkeit und disziplinierte Stimmführung bei den umfangreichen Koloraturen schlagen die Zuhörer von Anbeginn in Bann. Der Sänger meistert die intrikaten handwerklichen Anforderungen des Bach’schen Barockgesangs mit einer tiefempfundenen Authentizität und gelangt zu einer atemberaubenden Schönheit im Ausdruck.
Der klangschöne Sopran von Dorothee Mields überzeugte technisch in jedem Moment und durch die Barocktradition geprägte Darstellungskunst, die sich nie in Gefühligkeit verliert. Der facettenreiche Ausdrucksgehalt der Darstellung schien im ersten Teil intensiver zu leuchten.
Der Bariton von Konstantin Krimmel vereinnahmt den Hörer unmittelbar mit einem samtweichen Timbre, das in jedem Augenblick zugleich mit präziser, intelligenter, textverständlicher und facettenreicher Klangrede wie bei einem sensiblen Liedvortrag ausgeformt wird. Der feine Duktus und die sensible Akzentuierung passen perfekt zum Ausdruck des Orchesterklangs.
Grace Davidson brillierte in ihrem Part mit feinem und ausdrucksstarken Sopran.
Die Mitglieder des Chors und Orchesters des Collegium Vocale Gent singen und spielen sämtlich auf dem Niveau von anspruchsvollen Solisten. Es ist deshalb fast unangemessen eine einzelne Leistung hervorzuheben. Dennoch seien stellvertretend die erste Geigerin Christine Busch und das eindrucksvolle und ausdrucksstarke Spiel von Romina Lischka an der Viola da Gamba genannt.
Die Zuhörer folgen dieser über dreistündigen Aufführung gebannt und mit großer Konzentration. Sie erleben die Stationen des Leidensweges Jesus‘ und die intensive Empfindung des Mitleidens, der Schuld, und der Erlösung ganz unmittelbar. Das Werk und die handwerklich und emotional großartige Realisierung eröffnen damit auch heute die Möglichkeit zu einer individuellen Reflexion christlicher Themen und aus diesem eigenen Erleben und Empfinden die Erfahrung der Transzendenz – ganz so wie Bach es vielleicht vermitteln wollte.
Am Ende gab es trotz des Charakters einer Passions-Aufführung ganz unmittelbar begeisterten und lang anhaltenden Applaus, viele bravi-Rufe und schließlich stehende Ovationen für alle Beteiligten des eindrucksvollen Abends.
Achim Dombrowski
Copyright Photo:Eric de Mildt
30. März 2024 | Drucken
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