Mefistofele in Hannover: Auf der Suche nach non-binären Lösungen

Xl_e3e4d82c-fd2b-4824-bd28-dd892d58950c © Sandra Then

Arrigo Boito Mefistofele Niedersächsische Staatsoper Hannover

Premiere am 24.09.2022

Besuchte Aufführung am 28.09.2022

Die Oper in Hannover bietet eine konzeptionell eigenwillige, bildmächtige Umsetzung der Oper Mefistofele von Arrigo Boito

Bekannt ist der Musiker Arrigo Boito in erster Linie durch seine Freundschaft mit Giuseppe Verdi. Es existiert ein intensiver Briefwechsel der beiden Künstler, der insbesondere Boitos tiefe und verehrungsvolle Freundschaft zu dem großen italienischen Meister dokumentiert. Boito war der Librettist der beiden letzten Opern Verdis Otello und Falstaff. Er hat jedoch auch selbst komponiert. Neben der Oper Nerone ist sein auf Goethe zurückgehendes Bühnenwerk Mefistofele bekannt.

Im Alter von nur 26 Jahren vollendete er sein auf beiden Faust-Teilen des Dichters fußendes, sechsstündiges Opus Magnum, das an der Scala di Milano 1868 unter eigenem Dirigat uraufgeführt wurde und – krachend durchfiel. Nach sieben Jahren präsentierte er 1875 in Bologna eine um mehr als die Hälfte gekürzte zweite Fassung, die jetzt auch in Hannover zu Beginn der Spielzeit auf die Bühne kam.

Die musikalische Qualität der Partitur schwankt stark. Neben Weiterentwicklungen der italienischen Opernästhetik der Zeit gibt es nicht wenige Passagen, die einen oft hymnisch-getragenen Stil mit wenig innerer Spannung und Entwicklung aufweisen und musikalische Langatmigkeit vermitteln.

Die Regisseurin Elisabeth Stöppler verbindet die Inhalte von Faust I mit der Tragödie von Margherita und die Helena-Szenen aus Faust II so, dass für Faust die Begegnung mit Helena eine Kopfgeburt aus Schuldgefühlen und keine reale Erscheinung ist.     

Die Bühnen- und Kostümbildnerinnen Joki Tewes und Jana Findeklee nutzen diese Albtraumwelten für eine an die Popkultur angelehnte, zunehmend verzerrte Bilderwelt, die letztlich stark von Schwarzen Comics geprägt ist . Eine übergroße Baby-/Homunculus-Figur mit rot leuchtenden Augen beherrscht über weite Strecken den gesamten Bühnenraum. Der Chor tritt in schwarz-grundierten Harlekinkostümen auf. Je weiter die Szenen zum Faust II und Helena voranschreitet, desto unwirklicher erscheinen Situationen.  Die Darsteller tragen riesige Lametta-Perücken und Helena selbst wirkt in ihrer übergroßen Haarpracht zeitweise im Ansatz fast wie eine alptraum-artige Tierfigur. 

Die Texte der Oper sind ergänzt durch Auszüge aus Faust I sowie einer Team-Improvisation von Elisabeth Stöppler, Heinrich Horwitz, Regine Palmai und Martin Mutschler nach Texten von Kae Tempest: Göttliches Manifest

Das Werk wird in italienischer Sprache gegeben, die hinzu-erfundene Figur Gott wird hingegen auf deutsch von einem:r nonbinären, queeren Schauspieler:in Heinrich Horwitz gespielt. 

Die Auflösung von binären Genderkategorien wird in ihrer Übertragung auf die Gesellschaft als Chance begriffen, analog eine Öffnung bei den wertenden, trennenden oder religiösen Kategorien eines Entweder-Oder sowie eines Gut-Böse zu betreiben. Darin liegt für die Regisseurin Elisabeth Stöppler die Hoffnung  „... dem systemischen Kollaps unserer Erde und unserer Gesellschaft entgegenzuwirken.“

Das mag aktuell gefallen. Allerdings gibt es schon lange das Verständnis, dass mit einfachen Kategorisierungen Lösungen der komplexen Probleme der Zeit nicht möglich sind. Warum der Genderbegriff einer fluiden, non-binären, biologische Kategorien vermeidenden Betrachtung hier und heute den Durchbruch bringen soll, erschließt sich nicht. 

Oper und Schauspiel arbeiten seit Jahrzehnten in Varianten mit vertauschten Geschlechterrollen, auch und nicht zuletzt bei Götterfiguren. Man wird sehen müssen, inwieweit ein neuer, offener, genderbasierter Ansatz gerade jetzt die Menschheit in der Realität wirklich weiterbringt. 

Es steht allerdings ja auch nirgends, dass binäre Frauen und Männer nicht an gesellschaftlichen Lösungen mitwirken dürfen. 

Für die drei Protagonisten auf der Bühne bietet das Werk dankbare Rollen, die die Sängerdarsteller in Hannover eindrucksvoll zu nutzen wissen.

Shavleg Armasi hat einen solchen Bühnen-Spaß an der Mefistofele-Rolle, dass er wohl am liebsten die sechsstündige Urfassung dargeboten hätte. Mit unermüdlicher Stimmkraft und vor dem Hintergrund seiner umfangreichen Rollenerfahrung in vielen Werken des Musiktheaters beherrscht er wirkungsvoll den gesamten Abend über die Szene.

Der Faust von Pavel Valuzhin brachte – nach anfänglichen Schwächen in den Höhen - die feinsten stimmlich-verführerischen Momente wie aus Puccini-Tenorpartien mit, konnte jedoch auch in den spezifisch grüblerischen Faustszenen überzeugen.

Den lyrischen Höhepunkt des Abends erklomm äußerlich mit großer Ruhe und Ausgeglichenheit in Tongebung und Stimmführung Barno Ismatullaeva als Margherita in ihrer Arie im dritten Akt. Margheritas gesamte Tragödie gelangt in dieser Szene fokussiert und in schmerzlich-eindringlicher Weise zum Ausdruck.   

Die Ensembleleistung wurde durch Pawel Brozek, Monika Walerowicz und Batriz Miranda überzeugend abgerundet. 

Große Aufgaben haben der in voller Stärke operierende Chor, Extrachor und Kinderchor der Staatsoper unter der Leitung von Lorenzo da Rio. Alle Mitglieder taten dies nicht nur stimmlich in gelungener Form, sondern hatten in den immer abseitigeren Kostümierungen eine Höllenspaß am eigenen Auftritt.

Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter Leitung seines Chefdirigenten Stephan Zilias weiß die gesamte Bandbreite seines wirkungsvollen Orchesterspiels auszuspielen. Die atmosphärisch feinziselierten Holzbläserpartien kontrastieren mit den wirkmächtigen Tutti-Einsätzen und ergänzen die Lyrismen, die meist in ariosen Teilen der Partitur aufblühen.           

Es waren nicht wenige junge Zuschauer gekommen, die mit großer Freude den Künstlern ausgiebig applaudierten, und ihren Beifall auch fröhlich mit Johlen und Pfiffen zum Ausdruck brachten, was die Darsteller wiederum sichtlich zu schätzen wussten. 

Achim Dombrowski

Copyright: Sandra Then

 

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