Deutsche Oper Berlin
Detlev Glanert
Oceane
Uraufführung am 28. April 2019
Seit Jahrhunderten beschäftigt sich Literatur, Musik und auch das Ballett mit dem Melusine-Thema in immer wieder neuen Bearbeitungen. Brauchen wir also heute – im Jahr 2019 - noch eine weitere Oper zum Sirenen-Thema?
Der deutsche Komponist Detlev Glanert (*1960) und sein Librettist Hans-Ulrich Treichel (*1952) bejahen diese Frage. Sie basieren ihre Umsetzung auf ein Textfragment von Theodor Fontane aus der Zeit nach 1880 Oceane von Parceval. Für Glanert ist es neben einem breitgefächerten und vielseitigen Oeuvre bereits die elfte Oper, die er komponiert hat. Viele sind an bedeutenden deutschen Opernhäusern zur Aufführung gekommen. Treichel ist ebenfalls in einer Vielfalt von literarischen Genres erfahren, wozu auch Libretti für Opern gehören, u a Venus und Adonis für Hans Werner Henze 1997 und - bereits für Detlev Glanert - Caligulanach Camus, uraufgeführt 2006 an der Oper Frankfurt. Die Deutsche Oper Berlin konnte nunmehr ihr Auftragswerk Oceane im 200. Geburtsjahr Fontanes aus der Taufe heben.
Die Handlung spielt an der mecklenburgischen Ostseeküste in einem Urlaubshotel, das schon bessere Zeiten erlebt hat. Das Personal des Stücks besteht aus der Hotelbesitzerin Madame Luise, ihrem Hausdiener George, dem Pastor Baltzer sowie dem ‚einfachen‘ Paar Kristina und Albert sowie dem potentiellen ‚hohen Paar‘ Oceane und Martin. Die Interessen und Konstellationen sind schnell durchschaubar. Madame Luise träumt von ihrer wunderbaren Zeit, die sie in Paris durchlebt hat und die es so gar nicht gegeben, wie sich später herausstellt. Im übrigen ist sie mit steigender Verzweiflung bemüht, das Hotel durch einen neuen Kredit in seiner zukünftigen Existenz zu sichern. Der Pastor vertritt pastos und hohl, wenngleich nicht ohne Wirkung auf seine Zuhörer, den vorherrschenden amtskirchlich-gesellschaftlichen Komplex mit jedweder Abwehr des Fremden und Unbekannten. Kristina und Albert sind das etwas unbedarfte, verliebte und gleich nach beschlossener Verlobung bereits streitende ‚einfache‘ Paar. Der Unternehmer Martin von Dircksen und Oceane wären das ‚hohe Paar‘ der Oper, jedoch kommen sie nicht zusammen. Oceane, deren Herkunft nicht bekannt ist und über deren Reichtum spekuliert wird, kann keine menschlichen Gefühle empfinden, sie scheint aus einer anderen Welt zu stammen. Martin spürt die Gefahr, in der er sich in der Begegnung mit Oceane begibt. Nach ihrer elementaren Erscheinung inmitten der Urlaubsgesellschaft, dem Schock, den sie auf ihre Umwelt ausübt, verlässt Oceane alsbald die Welt wieder, die keinen Platz für sie hat.
Hans-Ulrich Treichel gelingt es, in zwei Akten mit sechs Szenen eine konzentrierte und prägnante Bühnenfassung des Fontane-Fragments zu kreieren. Das rund 95-minütige Werk besticht auf der Basis klar umrissener Charaktere und eines skizzenhaften Handlungsverlaufs. Die Partitur von Detlev Glanert beinhaltet eine Vielzahl von Stilelementen bedeutender Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Wir erkennen Richard Strauss, Claude Debussy, Benjamin Britten, und viele andere mehr. Die Musik entwickelt um Oceane einen soghaften, gewissermaßen unkontrollierbaren Charakter. Bezeichnend dabei ist, dass weder der Auftritt ihres nixenhaften Wesens noch die musikalisch-atmosphärische Umsetzung in eine romantisch-ätherische Verklärung münden. Oceane ertrinkt und versinkt nicht, sie bleibt während ihrer Präsenz wie eine Frau aus Fleisch und Blut, vielleicht ein Mensch? Auf jeden Fall eine rätselhafte Erscheinung. Alle anderen Charaktere umkreisen sie, teils befremdet, teils fasziniert, oder in Gegnerschaft. Ihre dem menschlichen Gefühl verschlossene, naturhafte Erscheinung wird soghafter Mittelpunkt der kleinen, zunehmend nichtig erscheinenden menschlichen Gesellschaft.
Glanerts Klangwelten finden einprägsame Chiffren für die Charakterisierung der Personen und die Handlung: Tänze wie Polka und Galopp, pastorale Ansprachen, überdreht-soubrettenhafter Gesang, etc. In Oceanes Solopartien sowie im Duett mit Albert erreicht sie den komplex-verinnerlichten Höhepunkt. Je entfernter und unberührter die Personen von Oceane sind, desto spielerischer und verspielter ist im Einzelfall die musikalische Form, auch die Verwendung von musikalischen Zitaten.
Die Erscheinung Oceanes und ihre Wirkmacht wird zum Prisma für vielfältige Thematiken, die man in unserer Gesellschaft für relevant halten kann: das Thema der unbedachten Naturausbeutung in der Person des erfolgreichen Forstunternehmers Albert, die Angst vor weiblicher Sexualität, populistische Hetze angesichts fremder oder andersartiger gesellschaftlicher Strömungen und vieles andere mehr. Weder Text noch Musik werden jedoch im Sinne der skizzierten Thematiken plakativ konkret. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, die Relevanz für sich zu definieren und zu empfinden. Oceane wird für Menschen ein fortwährendes Geheimnis bleiben. Der Einzelne bleibt aufgerufen, sich ihr zu stellen.
Die Handlung wird vom Regisseur Robert Carsen behutsam einige wenige Jahre nach vorne verlegt, in den Dämmerschein des wilhelminischen Zeitalters. Damit wird die gesellschaftlich und politische aufgeladene Atmosphäre kurz vor dem ersten Weltkrieg evoziert. Zusammen mit Luis F. Carvalho für die Bühne, Peter van Praet für die Lichtregie, Robert Pflanz für die Videokreationen und Dorothea Katzer für die Kostüme entsteht ein schwarz-grauer Kosmos vor einem Wolkenspiel der ewig-unendlichen baltischen See. Die Szene scheint immer in der Gefahr, sich in der Weite von Meer und Himmel zu verlieren.
Glänzend Maria Bengtsson als Oceane. Sie wandelt in Erscheinung, darstellerischem Ausdruck und stimmlicher Charakterisierung der Partie genau auf dem Grat zwischen dem Erscheinungsbild einer reizvollen, kühlen und schönen Frau sowie der gefühlsmäßigen Entrücktheit ihres Seelenlebens. In darstellerischer und stimmlicher Geste ist die Präsenz immer zurückhaltend angelegt, fern ab jeder Exaltiertheit oder romantisch-verklärter Entrücktheit. Nikolai Schukoff gibt mit überzeugend geführter Tenorstimme einen zunächst eroberungswilligen, später zunehmend verhaltenen Martin. Kontrastierend Christoph Pohl als Albert mit seiner alsbald verlobten, soubrettenseligen und trillernden Kristina von Nicole Haslett. Ebenso überzeugend agiert Albert Pesendorfer als Oceanes Gegenspieler Pastor Baltzer. Doris Soffel als Madame Luise und Stephen Bronk als ihr Hausdiener Georg runden das Ensemble mehr als zufriedenstellend ab.
Der Chor der Deutschen Oper Berlin unter der bewährten Leitung von Jeremy Bines vermag die darstellerischen und gesanglichen Herausforderungen der gar nicht geringen Aufgaben exzellent zu erfüllen.
Das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter seinem Chefdirigenten Donald Runnicles hat sich die Klangsprache von Glanert mit Bravour erarbeitet und trägt ganz wesentlich den gelungenen Spannungsbogen des gesamten Abends.
Von den drei bedeutenden deutschsprachigen Auftragswerken an Berliner Opernhäusern in dieser Spielzeit erhielt Oceane den begeistertsten und nachhaltigsten Applaus des Premierenpublikums. Die Taufe einer neuen Melusinen-Oper wurde dringend begrüßt und begeistert bejubelt. Das gesamte Ensemble, allen voran Maria Bengtsson als Oceane sowie Komponist und Librettist wurden mit vielen bravi lange gefeiert.
Achim Dombrowski
Copyright Fotos: Bernd Uhlig
30. April 2019 | Drucken
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