Staatsoper Hamburg: Die Skrupel des Zaren Boris Godunow

Xl_17_boris_godunow_c_brinkhoff-moegenburg © Brinkhoff/Mögenburg

Boris Godunow
(Modest P. Mussorgsky))

Premiere am 16.09.2020 

besuchte Aufführung am 04.10.2023

Staatsoper Hamburg 

Die Hamburgische Staatsoper eröffnet die Spielzeit mit der wegen Corona lange und wiederholt verschobenen Neuinszenierung von Mussorgskys Boris Godunow in der Inszenierung von Frank Castorf. 

Castorf kann nerven. Legendär sein Bayreuther Ring des Nibelungen mit Wackelkameras hinter der Szene oder seine in vielfacher Hinsicht überladene Macht des Schicksals an der Deutschen Oper Berlin.

Doch diesmal - wieder zusammen mit seinem langjährigen Bühnenbildner Aleksandar Denić - wirkt der Altmeister verhältnismäßig zurückhaltend. Liegt das am verinnerlichten Dirigat von Kent Nagano, einer Zurückhaltung angesichts der scheinbar ewig sich wiederholenden russischen Geschichte, inclusive des aktuellen kriegerischen Überfalls auf die Ukraine?

Wieder ist vieles auf der reichlich bestückten Drehbühne zu bestaunen: ein Versatzstück eines U-Boots mit der Kennzahl 917, bei der man intuitiv 1917 (das Datum der Oktoberrevolution) zu lesen meint, die berühmten im Stil der Stalinära geschaffene Statue Arbeiter und Kolchosbäuerin im Riesenformat und schließlich als letzter Knaller nach dem Tode Boris‘ ein überdimensionierter Louis-Vuitton-Koffer mit noch größerer Coca-Cola-Flasche – wie in einer Moment-Aufnahme aus dem Kaufhaus Gum. Alles bekannte und unmittelbar stark assoziativ wirkende Symbole aus dem Gezeiten-Verlauf der russischen Geschichte von Ivan dem Schrecklichen über Boris Godunow, Stalin bis zu Putin. 

Auch die üblichen Video-Einspielungen fehlen nicht, die oft Geschehnisse im unsichtbaren Hintergrund der Bühnen zeigen, ganz wesentlich den anscheinend seiner polnischen Marina hörig-verfallenen, falschen Dmitrij, die beide zusammen im dekadentem Rausch ihren Überfall auf das russische  Zarenreich planen. Dabei wirken sie mitunter wie die schwarzen Passagiere des durch die Jahrhunderte der russischen Geschichte fahrenden U-Bootes. 

Der Konflikt zwischen dem Katholizismus Polens und der russischen Orthodoxie wird erweitertet durch den Konflikt von Kommunismus und Religion: Ein übergroßes Bild eines Raumfahrers verkündet: „Es gibt keinen Gott ...“- die propagandistische Umwertung einer Äußerung des Kosmonauten Gargarins nach seiner Rückkehr von seiner Mission.

Die Kostüme von Adriana Braga Peretzki tragen dieser Mischung Rechnung: sie kreiert ein buntes Kaleidoskop aus Alltagskleidung, Elementen zentralasiatischer Trachten, glitzernden Bojarengewändern und nicht zuletzt orthodoxer Mönchgewänder.   

Aufschluss zum inhaltlichen Kern der Umsetzung gibt im Programmheft der äußerst kluge und eingängliche Überblick des Dramaturgen, Regisseurs und Schauspielers Patric Seibert Grundzutaten russischer Geschichte – ein Abriss. Er bringt die wiederkehrende Tragik der russischen Geschichte bezwingend auf den Punkt.     

Und doch: auch Verinnerlichung und (unheimliche) Ruhe sind gewährleistet. Der innere Monolog des schuld-getriebenen Zaren und dessen unheilvolle Begegnung mit seinem intriganten Widersacher, dem Bojaren Schuiskij, sind gefährlich-intensive Begegnungen und Reflexionen. Dem Rezitativstil der Dialogoper Mussorgskys wird in eindringlich-leiser Form entsprochen.

Gegeben wird die Urfassung, die in etwas mehr als zwei Stunden pausenlos durchgespielt wird und (von Amme und der Hosenrolle des Zarensohnes Fjodor abgesehen) nur männliche Darsteller auftreten lässt. Der in späteren Fassungen integrierte Polen-Akt fehlt dabei, bzw. wird nur in stummen, teilweise irrwitzig-machtberauschten Textfetzen versehen Untertiteln angedeutet.  

Alexander Tsymbalyuk als Boris Godunow bringt umfangreiche Rollenerfahrung mit. Der Sängerdarsteller vermag die große Spannweite des zerrissenen Charakters vom souveränem Herrscher eines lange Jahre befriedeten Reiches bis hin zu seinem Untergang durch Intrigenspiel und eigene Skrupel menschlich eindringlich und beklemmend darzustellen. Sein gewaltiger Bass beherrscht die großen Ausbrüche ebenso wie die leisen, angstgetriebenen, psychotischen Facetten der Partie grandios.  

Der Intrigant Fürst Schuiskij von Matthias Klink ist getrieben durch den eigenen Machtwillen, wobei er sich in seinem Verhalten chamäleonhaft an die aktuellen politischen Umstände und Situationenanzupassen vermag und darin auch verloren gehen kann. Die Stimmgebung des Sängers ist klar und präzise und bevorzugt die zurückgenommenen, eindringlichen Töne der psychologischen Manipulation. 

Die Mönche werden von den Sängerdarstellern Vitalij Kowaljow als Pimen, Dovlet Nurgeldiyev als Grigorij (später Dmitryij) und Ryan Speedo Green als Warlaam erstklassig vertreten.   

Ein bewegendes Portrait des Gottesnarren – eine religiös bedeutsame Figur aus der russischen Religion, dem als einziger die offene Rede zugestanden wird - gibt Florian Panzieri,  Mitglied aus dem internationalen Opernstudio der Staatsoper.  Besonders eindringlich das Klagelied über das Schicksal Russlands. 

Der Chor der Staatsoper Hamburg unter der Leitung von Eberhard Friedrich sowie die Alsterspatzen und der Kinder und Jugendchor der Staatsoper Hamburg unter Luiz de Godoy treffen die spezifisch russischen Tongebungen in gelungener Weise. Dabei als das Volk oft komplett statische geführt. 

Das Philharmonisches Staatsorchester mit seinem Chefdirigenten Kent Nagano fokussiert konsequent auf den Rezitativstil der Dialogoper. Denn in den rhetorisch getragenen Szenen unter den Mönchen entstehen die Umsturzpläne, in den Monologen Boris‘ konfrontiert er sich mit seinen Schuldgefühlen, in den Auseinandersetzungen zwischen Boris und Schuiskij wurzelt die zerstörerische Kraft der Intrige. Der Orchesterklang ist dabei so dunkel-glühend wie variantenreich und spart in den Chorszenen – und vor allem der Krönungsszene – nicht mit Effekt, ohne jedoch in das hier oft praktizierte Lärmen zu verfallen.  

Großer Beifall für alle Beteiligte.      

Achim Dombrowski

Copyright: Binkhoff/Mögenburg

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