Staatsoper Hannover
Lear
(Aribert Reimann)
Premiere am 10.02.2024
besuchte Aufführung: 3.03.2024
Die 1978 in München als Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper uraufgeführte Oper Lear von Aribert Reimann gehört nicht nur zu den bedeutendsten Werken der Oper des 20. Jahrhunderts, sondern hat mit mindestens 40 Inszenierungen nach der Uraufführung eine für zeitgenössische Opern außerordentlich hohe Nachspielquote.
Reimanns langjähriger Freund Dietrich Fischer-Dieskau hat den Künstler dazu bewegt, ein Werk anzugehen und erfolgreich zu vollenden, dessen Vorlage von Shakespeare zwar schon viele andere Komponisten über Jahrhunderte gereizt hat, die aber letztlich die Umsetzung angesichts der Ausweglosigkeit und Düsternis des Sujets gemieden haben. Dazu gehörte über Jahrzehnte seines Schaffens auch Giuseppe Verdi, der immer wieder über seinen Re Lear nachgedacht hat, ohne sich zu einer Komposition zu entschließen.
Das Regiekonzept von Joe Hill-Gibbins und seinem Bühnenbildner Tom Scutt zwingt die vielen, nachgerade physisch schmerzhaften Tonstrukturen der Partitur in eine ebenso archaische und gewaltige Bühnenlandschaft, die einerseits vom Orchestergraben mit riesigem Klangapparat sowie einer Crew von nicht weniger als sieben Schlagzeugern, die mit ihrem gewaltigen Instrumentenapparat erhöht am Ende des komplett geöffneten, nackten Bühnenraums positioniert sind. Zwei Harfen finden rechts vorne am Bühnenportal Platz.
Die Interaktionen auf der Bühne werden durch sparsam bewegte Hubpodien, strenge Lichtkonfigurationen von Andreas Schmidt und eine holzschnittartige Personenführung geprägt. Rudimentäre, knappe und letztlich ersterbende Spielelemente der Protagonisten bewirken, die Abgründe, Gewaltbereitschaft und gleichzeitig schuldhaft-schicksalhafte Hilflosigkeit derer Charaktere zu zeichnen und bedrohlich spürbar zu machen.
Hunderte von Kartons, die zunächst den gesamten Bühnenraum ausfüllen und anfangs zu künstlicher Ordnung nur locker geschichtet erscheinen, stürzen ineinander und verwandeln die Anmutung von hohler Macht dieser Bühnenlandschaft zu einem Endzeitbild einer undurchdringlichen Todeszone - wie einem Eismeer in Blut. Ein in seiner ausweglosen Archaik bezwingendes und erschütterndes Bild des grausamen Spiels von Macht, Gewalt und Tod. Bedrückter hat man ein Theater noch nicht verlassen.
Dabei besticht die Überzeugungskraft durch die Sparsamkeit der Mittel und die Kargheit der Szene – es bleibt ein Geheimnis der Produktion, dass ausgerechnet diese Kombination an zurückhaltenden Mitteln so überzeugen. Oder ob wir in Zeiten des Krieges feinfühliger sind?
Michael Kupfer-Radecky hat noch in der Premiere sein Debut in dieser gewaltigen Titelpartie – laut Berichten grandios - zur Darstellung gebracht, bevor der Künstler erkrankte, so dass er die gesamten nachfolgenden Aufführungen der Serie nicht singen kann. Welcher Schmerz muss das sein, einen solchen physisch und psychisch verausgabenden Part erarbeitet zu haben und krankheitsbedingt nicht auftreten zu können. Wir wünschen dem Künstler baldige und vollständige Genesung!
Da die Partie mit ihrem gewaltigen Anforderungsprofil nicht von vielen Sängern dargestellt wird, musste man die Rolle in den nachfolgenden Terminen aufteilen. Den Gesangspart übernahm Frederik Zetterström, der die Rolle Malmö 2013 gesungen hat, jedoch so kurzfristig nicht mehr in die Besonderheit des szenischen Konzepts eingewiesen werden konnte. Das szenische Spiel wurde von Tomas Möwes übernommen, der den Part in Amsterdam und Essen verkörpert hat, aber nicht mehr singt.
Bei der Archaik des Konzeptes gelang diese Konstellation insgesamt besser als in vergleichbaren, aus der Not geborenen Umsetzungen dieserart. Zetterström als Lear war in der Szene, nicht eben zu nah am Portal positioniert und sang den gewaltigen Part mit oratorischer Strenge im Habitus. Die gewaltigen Ausbrüche, schließlich immer stiller werdenden Gesangslinien gelangen eindrucksvoll und ließen die Zweiteilung immer wieder vergessen.
Thomas Möwes konnte im Verlauf des Abends seine (wieder wachsende -?) Vertrautheit mit Schicksal Lears bis zum bitteren Ende ausspielen – auch dieser Darsteller agiert mit sparsamer Geste. Der Edgar von Nils Wanderer setzt seinen Countertenor mit immer zarteren, empathischen Gesanglinien ein und entrückt zusammen mit Lear in sphärische Zonen.
Die drei Schwestern sind herausragend besetzt. Angela Denoke bringt ihre Erfahrung in der schrill und mit gewaltigen Tonschritten ausgestatteten Partie der Goneril ein. Kiandra Howarth als Regan und Meredith Wohlgemuth als Cordelia geben den so unterschiedlichen Charakteren durch ihre stimmlich und darstellerisch überzeugende Leistung Gewicht.
Erschütternd das Portrait des Grafen von Gloster durch Frank Schneiders, der bei schonungslosem Einsatz seiner Stimmkraft durch alle Stufen der physischen und psychischen Demütigung und Folter geht.
Der Narr wird durch den Schauspieler Nico Holonics verkörpert. Sein zunächst skurriles Spiel wird angesichts der Gewaltexzesse und des um sich greifenden Wahnsinns immer weniger aus der Rolle fallend, Narrentum und Wahnsinn werden eins.
Die Herzöge von Cornwall und Albany geben Pawel Brozek und Darwin Prakash, den König von Frankreich und Grafen von Kent Yannick Spanier und Marco Lee.
Der statisch geführte Herrenchor der Staatsoper Hannover unter der Leitung von Johannes Berndt und Lorenzo Da Rio erfüllt seine Aufgaben überzeugend.
Das Niedersächsisches Staatsorchester Hannover und seinem Chef Stephan Zilias widmet sich den besonderen, oft brutalistischen Tonstrukturen, und -schichtungen Reimanns mit Hingabe und Kraft, ohne dabei die mannigfaltigen Differenzierungen im Klangbild zu vernachlässigen. Die großen Aufgaben der Schlagzeugtruppe ist besonders hervorzuheben.
Das Publikum in dieser nicht gänzlich gefüllten Nachmittagsvorstellung weiß die Leistungen des gesamten Teams, einschließlich des Orchesters mit zu Recht viel und lang anhaltendem Applaus zu würdigen.
Achim Dombrowski
Copyright Fotos: Sandra Then
06. März 2024 | Drucken
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