The Time of Our Singing: Rassismus als Fortsetzung im Kopf der Opfer

Xl_58aa01dd-11a6-4b0d-b2de-4fb7102fd94e © Bernd Uhlig

Oper Brüssel

La Monnaie / De Munt

The Time of Our Singing

Kris Defoort

Auftragswerk des Theater La Monnaie/De Munt 

Koproduktion mit LOD muziektheater, Gent und Theater St. Gallen

Premiere der Uraufführung am 14. September 2021

Kris Defoort, renommierter Jazz-Musiker, der mit vielen Größen des Fachs auf Tourneen durch die ganze Welt reiste, ist auch als Opernkomponist erfolgreich. Zwei Werke wurden bereits an der Brüsseler Oper La Monnaie / De Munt uraufgeführt: The Woman Who Walked into Doors (2001) und The House of Sleeping Beauties (2009). Der Plan für ein drittes Musiktheaterwerk existierte bereits seit rund 10 Jahren. 2020 verhagelte Corona zunächst die Uraufführung.

Defoort verfügt über eine vom Jazz geprägte, gewissermaßen filmisch-phantasievolle Klangkunst, die in der Lage ist, jedweden Musikstil übergangslos zu spielen und in die Partitur zu integrieren. Wer will, kann Schubert, Bach, Puccini etc., etc. erkennen. Mit einem atmosphärisch abwechslungsreichen Klangbild kann der Komponist vielfältige Handlungselemente der Vorlage wirkungsvoll und leicht eingänglich umsetzen, so dass überhaupt vorstellbar wird, den von dem amerikanischen Autor Richard Powers 2003 veröffentlichten, mehrfach ausgezeichneten und in viele Sprachen übersetzten Roman The Time of our Singing als Musiktheaterwerk zu realisieren. Der Autor entwirft auf über 800 Seiten ein Panorama der Geschichte und gesellschaftlichen Konflikte der USA im 20. Jahrhundert am Beispiel des Schicksals einer Familie aus Philadelphia, deren Leben also zugleich Inhalt der Oper ist. 

Im Zentrum steht der deutsch-jüdische Wissenschaftler David Strom und seine schwarze Frau Delia Daley, die sich 1939 beim berühmten Konzert von Marian Anderson vor dem Lincoln Memorial in Washington kennenlernen und verlieben. Dieses Konzert wurde zunächst von den Daughters of the American Revolution – einer erzkonservativen, rassistisch-geprägten Interessengruppe -  zur Aufführung im Konzertsaal verboten, fand dann jedoch zum Protest als Freiluftkonzert umso mehr Aufmerksamkeit, so dass sich nicht weniger als 75.000 Menschen auf der Washington Mall einfanden. So wie bei dieser herausragenden gesellschaftlichen Demonstration berührt das Buch nicht wenige Momente wichtiger politischer Sachverhalte in der Geschichte der Vereinigten Staaten im relevanten Zeitverlauf, mit denen die Personen der Handlung in Verbindung kommen oder die sie untereinander diskutieren.       

Der Roman erzählt dabei vor allem vom Lebensweg der drei Kinder des Paares – Jonah, Joey und Ruth. Mit einfühlsamer Emphase wird von allen Protagonisten die Bedeutung der Musik im Zentrum des Familienlebens hervorgehoben und erlebt. Dabei steht die europäische klassische Musik der vorangegangenen Jahrhunderte im Mittelpunkt. 

Für die Entwicklung der beiden Brüder Jonah und Joey wird dieses Erleben zum Ausgangspunkt ihrer beruflichen Entwicklung. Joey wird Pianist, der zu Beginn der Laufbahn oft seinen Bruder begleitet. Jonah wird über die Zeit ein außerordentlich erfolgreicher und auf allen Kontinenten gesuchter Sänger für das klassische Repertoire, dessen glänzend ausgeprägte Tenorstimme schließlich an allen großen Opernhäusern in der Welt gefeiert wird.

So sehr die klassische Musik Kern und Rahmen für das liebevoll-empathische Familienleben ist, so sehr ist sie zugleich auch Konfliktthema zwischen den Familienmitgliedern, die die Identifikation mit dieser künstlerischen, zutiefst mit einer weißen Kultur verbundenen Sphäre auch befremdlich, als potentiellen Verrat an der eigenen Herkunft empfinden, bzw. die der Definition und Ausprägung ihrer eigenen Identität im Wege steht.

Diese familien-interne Auseinandersetzung als Spiegelbild gesellschaftlicher Konflikte entzündet sich auch an anderen Faktoren. Die Schwester sondert sich am stärksten ab, verfällt fast der Drogensucht, engagiert sich mit ihrem Partner bei den Black Panthers und widmet sich schließlich gänzlich dem Gemeinwohl, indem sie Unterkünfte für heimatlose Kinder, und später eine ebensolche Schule begründet, in der auch Joey mit den Kindern musiziert. So sehr die Mutter Delia auch einen eigenen Schutzraum zu schaffen versucht, so sehr ist das Leben der einzelnen Familienmitglieder durch die Erfahrung von Gewalt geprägt. Die Mutter selbst kommt unter niemals geklärten Umständen bei der Explosion des eigenen Hauses früh ums Leben, Ruth lebt in sehr instabilen Verhältnissen, ihr Partner wird von der Polizei erschossen und schließlich wird Jonah bei den Rassenunruhen 1992 in Los Angeles tödlich verletzt. 

Stilistisch ist das Buch auf faszinierende Weise gespalten: Während die Geborgenheit des Familienlebens mit ausdrucksstarker Empathie geschildert wird, entwickelt sich die Darstellung der gesellschaftlichen Szenen mit dokumentarischer Sachlichkeit und Distanz. Formal wird der Roman aus der Perspektive des zweiten Sohnes Joey als Erzähler entwickelt.  

Die Textfassung für die Oper wurde von Peter van Kraaij geschaffen. Dabei wird die Erzählstruktur aufgebrochen. Statt des alleinigen Erzählers Joey wechseln Kommentar- und Erzählperspektiven sowie -techniken übergangslos wie in quasi filmischer Überblendung. Das erlaubt viele Handlungselemente aus dem episch angelegten Roman effizient und in spannender Weise miteinander zu verknüpfen und bei einer musikalischen Spieldauer von rund 150 Minuten zu präsentieren. 

Der Regisseur Ted Huffman und sein Team greifen die Zweiteilung auf und steigern den Eindruck noch durch die strenge und karge Ausstattung von Bühne (Johannes Schütz) und Kostüm (Astrid Klein), vor allem aber durch die Einbringung von Dokumentarvideos (Pierre Martin), u.a. vom Konzert Andersons in Washington oder den Original-Fernsehberichten zu den Rassenunruhen 1965 und 1992, die im Originalton eingeblendet werden. Auf der Bühne stehen ansonsten nur ein Scheinwerfer und ein Klavier. Sie ist an den Außenrändern umgeben von einer Reihe von Tischen, die in verschiedenen Szenen von den Sängern rasch selbst szenisch arrangiert werden. 

Die Szenenfolge wirkt wie eine geschichtliche Aufarbeitung, eine Dokumentation, teilweise Gerichtsverhandlung oder letztlich wie eine persönliche Aufarbeitung von Fragen zu Herkunft, Verleugnung oder empfundener Verstrickung und Schuld der einzelnen Akteure. Ein Tribunal der Familienmitglieder vor und mit sich selbst. Mithin die Folge von Rassismus und gesellschaftlicher Gewalt als Fortsetzung im Kopf der Opfer, unausweichlich und (selbst-)zerstörerisch.

Eine ungemein gelungene, beklemmende Bühnenerzählung der Romanvorlage sowie gleichzeitig bewegende Umsetzung als Musiktheater. 

Claron McFadden als Mutter Delia und der Jonah von Levy Sekgapane führen ein durchweg überzeugendes, authentisches Sängerensemble an. Die Präsenz von Claron McFadden ist derart intensiv, dass ihr früher Tod als beklemmender Verlust im Zentrum der Familie nachgerade physisch für den Rest der Aufführung spürbar bleibt. David Strom wird von Simon Bailey mit viel Einfühlungsvermögen für die Rolle als zeitweise weltfremder aber immer liebevoller Wissenschaftler und Vater dargestellt. Peter Brathwaite verkörpert den kleinen Bruder Joey mit eindringlicher Leidenschaft. Die Schwester Ruth gibt Abigail Abraham mit schonungsloser Hingabe an die Idee des Widerstands und der Hilfestellung für schwache Mitglieder der Gesellschaft. 

Es spielt das Orchestre de Chambre de la Monnaie mit ca. 20 Musikern zusammen mit einem vierköpfigen Ensemble de Jazz unter dem Dirigat von Kwamé Ryan

Viel Beifall für das gesamte Ensemble, insbesondere für Claron McFadden, Levy Sekgapane, Kwamé Ryan, das gesamte Regieteam und den anwesenden Komponisten Kris Defoort.  

Achim Dombrowski

Copyright Bernd Uhlig

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