Premiere am 03. 09. 2021
besuchte Aufführung am 5.09.2021
Theater Lübeck
Das Theater Lübeck startet die Spielzeit erfolgreich mit einem selten gespielten Werk von Benjamin Britten: Owen Wingrave als Lübecker Erstaufführung
Owen Wingrave kam als Fernsehoper zur Welt. Als Werk wurde zum ersten Mal 1971 im BBC und in verschiedenen europäischen Ländern gleichzeitig ausgestrahlt und erstmals szenisch in der Royal Opera London 1973 gezeigt. Weitere szenische Umsetzungen folgten, jedoch eher spärlich.
Wie ansonsten auch mit der Homosexualität in anderen Opern, greift Britten in diesem Werk eine Thematik auf, die ihm durch eigene Prägungen und Überzeugungen besonders am Herzen liegen und mit deren Position er im Konflikt mit den gesellschaftlichen Werten seiner Zeit steht: die Ablehnung von Krieg und sein Bekenntnis zum Pazifismus, das er immer pro-aktiv öffentlich vertreten hat.
Die Handlung beruht auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Henry James. Owen Wingrave ist der letzte Sohn einer stolzen Familie der britischen Oberschicht zu Ende des 19. Jahrhunderts, die auf Genrationen von hochdekorierten und noch mehr im Kriege gefallene männliche Familienmitglieder zurückschaut. Wie selbstverständlich erhält auch Owen eine militärische Ausbildung, verweigert sich jedoch für alle unerwartet der weiteren soldatischen Laufbahn. In den nachfolgenden Auseinandersetzungen mit der Familie wir der von dieser verstoßen, enterbt und verliert auch noch seine Verlobte Kate, die sogleich von einem seiner sogenannten Soldatenfreunde vor seinen Augen scheinbar erfolgreich angemacht wird. Owen ist eifersüchtig. Nachdem ihm von Kate Feigheit vorgeworfen wird, soll er schließlich in einem Gespensterzimmer auf dem Landsitz der Familie übernachten, in welchen zuvor Vater und Sohn einer vorangegangenen Generation unter vollkommen ungeklärten Umständen zu Tode gekommen sind, nachdem auch in diesem Fall der Sohn den Weg in den Kriegsdienst verweigert hatte. Owen glaubt schließlich durch seine eigene Haltung in der Verweigerung seines vorgezeichneten militärischen Lebensweges diesen zuvor ums Leben gekommenen Jungen zu rächen. Er erkennt auch, dass seine Familie und seine weitere Umgebung ihn letztlich nicht als Menschen, sondern lediglich in seiner vorgezeichneten Rolle als Militär mit der Interessenvertretung definierter gesellschaftlicher Aufgaben geachtet hat. Diese Erkenntnis gibt ihm Ruhe, Kraft und steigende Gewissheit, den Weg des Widerstandes konsequent weiter zu gehen. Am Morgen nach der Mutprobe im Gespensterzimmer entdeckt seine Verlobte Kate den unter geheimnisvollen Umständen verstorben Owen Wingrave.
Mit der Inszenierung von Stephen Lawless zusammen mit dem Ausstatter Ashley Martin-Davies und der Videokunst von Andreas Beer gelingt eine bezwingende Umsetzung des Bühnenwerkes.
Die Sphären Ausbildung, Familie, Tradition und Erwartungen der britischen Oberschicht der dargestellten Zeit werden durch einfache Requisiten und einfühlsame Videoprojektion praktisch immer gleichzeitig und in ihrer Widersprüchlichkeit sichtbar gemacht. Der Bühnenboden ist andeutungsweise immer auch Schlachtfeld und Schützengraben, und der Landsitz der Familie Owen wirkt durch die omnipräsente Ahnengalerie wie das familieneigene Kriegsmuseum mit erdrückender Verehrung insbesondere der vormals gefallenen und portraitierten Familienmitglieder.
Die Besetzung der Rollen stützt sich auf das Ensemble des Hauses. Johan Hyunbong Choi ist der letzte Sohn der Sippe auf dem Weg der Verweigerung. Eine gesanglich und auch darstellerisch bezwingende Leistung. Gerard Quinn gibt den im innersten verständigen Ausbilder, der jedoch am Schicksal seiner ihm anvertrauten Zöglinge wenig positiv verändern kann. Der scheinbar so leichte und leichtfertige Freund Owens Lechmere wird von Yonki Baek dargestellt. Der Sänger verfügt über alle Facetten des Triumphierens und des gleichzeitigen Selbst-Zweifels, die die Charakterisierung dieser Rolle erfordert.
Die Verlobte Owens überzeugt in der gewohnt souveränen Gestaltung von Wioletta Hebrowska. Die weiteren Frauenrollen von Sabina Martin als Miss Wingrave, Evmorfia Mataxaki als Mrs. Coyle und Andrea Stadel als Mrs. Julian werden bezwingend dargestellt. Ein Kabinettstück in gruselig gesellschaftlich-irregeleiteter Haltung vertritt Wolfgang Schwaninger als alter General Sir Philip Wingrave.
Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung von Stefan Vladar spielt als ob es die gesamte Zeit der Corona-bedingten Abstinenz für seine weitere Ausprägung sehr feinfühliger musikalischer Fähigkeiten genutzt hätte, die es jetzt so äußerst subtil präsentiert. Insbesondere die differenzierten Holzbläser vermitteln einen tiefen, anrührenden Bezug zur Partitur Brittens.
Das immer noch spärlich über die Plätze verteilte Publikum leistet schließlich seinen eigenen Beitrag mit begeistertem Applaus und Bravorufen, insbesondere für Johan Hyunbong Choi in der Titelpartie und das Orchester.
Achim Dombrowski
Copyright: Jochen Quast
09. September 2021 | Drucken
Kommentare