In Tschechows Schauspiel Drei Schwestern blicken wir tief in das Leben der russischen Provinz um 1900. Die drei Schwestern träumen von einem Umzug in die verheißungsvolle Metropole Moskau. Moskau ist die Chiffre für ein erfülltes Leben jenseits der Langeweile in der russischen Provinz. Dazu gehört auch der sehnliche Wunsch nach einer erfüllten Beziehung mit einem idealen männlichen Lebenspartner, zumindest noch für die beiden jüngeren Schwestern. Melancholie und Lethargie verhindern jedoch, dass die Menschen dem Ziel nahekommen, der Sehnsuchtsbegriff Moskau verbleibt in unerreichbarer Ferne. Das Stück ist damit auch Sinnbild der Endzeit einer Epoche im Russland um 1900.
Die Oper kam als Auftragswerk des Chefdirigenten Kent Nagano der Opera de Lyon 1998 zur Uraufführung. Den Text hat der Komponist zusammen mit Claus H. Henneberg zunächst auf deutsch erarbeitet. Er wurde anschließend ins russische zurückübertragen. Das Werk wurde seitdem in einer Vielzahl von erfolgreichen und weithin beachteten Produktionen nachgespielt. Nun erfolgte auch die Frankfurter Erstaufführung.
Die Unwirklichkeit der Situation, in welcher sich die Personen befinden und deren wachsende Hilflosigkeit, einen Fluchtversuch aus ihrer erdrückenden Lage zu unternehmen, wird von dem ungarischen Komponisten Peter Eötvös, durch diverse Effekte bewirkt. Da ist zum einen die Flexibilisierung der zeitlichen Komponente. Die unterschiedlichen Sequenzen (nicht Akte) der Oper kreisen im Kern um das Schicksal der Schwestern Irina und Mascha sowie den Bruder Andrei. In diesen Sequenzen entwickelt sich die Handlung zunehmend schneller und die einzelnen Szenen werden teilweise aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Sichtweisen gezeigt, wiederholen sich im Einzelfall auch. Der Handlungsfortschritt wird so zunehmend unwirklicher und langsamer empfunden, obgleich das Erzähltempo steigt.
Das Orchester ist zweigeteilt: Im Orchestergraben sitzen 18 Musiker, die oft solistisch gezielt zur Charakterisierung einzelner Figuren eingesetzt werden. Im Hintergrund, auf einem ca. zwei Meter hohen Podium, welches die gesamte Bandbreite der Hinterbühne einnimmt, befindet sich das größere, streicherbetonte Orchester mit 50 Musikern. Die Ensembles werden von zwei Dirigenten geleitet. Das Orchester hinter der Bühne steht unter dem Dirigat von Nikolai Petersen, für die Gesamtleitung beider Ensembles zeichnet Dennis Russell Davies verantwortlich. Die Orchesterleiter sind per Monitor miteinander verbunden.
Die vier führenden Frauenpartien sind mit Countertenören besetzt. Diese herausgehobenen Stimmcharaktere stehen im Gegensatz zur Unentschlossenheit und Lethargie der handelnden Personen. Dabei legt die Regisseurin Dorothea Kirschbaum zusammen mit dem Bühnenbilder Ashley Martin-Davies und den Kostümen von Michaela Barth größten Wert darauf, dass die Gestaltung der Szene keinerlei russische Elemente oder Folklore enthalten. Die Ausstattung des Raumes zeigt einen durch eine gehobene Küchenlandschaft, Schreibtisch, Klavier und Ikea-Bücherwand gestalten Einheitsraum, der sich im Laufe der Handlung lediglich minimal nach rechts oder links verschiebt. Dazu gibt es gelegentlich wenig ausdrucksstarke Videoeinspielungen von Christina Becker. So blickt man auf ein Abbild einer heutigen Einheits-Wohnwelt, die sich strengstens davor hütet, jedweden Inhalt des Dramas in ein fremdes, entferntes Ambiente zu verlegen. Der Zuschauer sieht gewissermaßen sein eigenes Umfeld, empfindet im Zweifel seine eigene Lebenssituation. Lethargie, Entschlusslosigkeit und Verharren sind Probleme heutiger Lebenssituationen genauso wie sie das um 1900 in Russland gewesen sein mögen.
Dabei agieren die Countertenöre äußerlich nicht wie die Seelen der Frauen, mit möglichst ephemeren Auftritt und Maske, sondern vielmehr zwar in Kleid und Perücke, aber ansonsten männlicher Geste. Die Atmosphäre einer atmosphärisch-unergründlichen, ungeschlechtliche Zwischenwelt wird dadurch weiter gesteigert. Die Unergründlichkeit der lähmenden, unausweichlichen Lebenssituation nachgerade physisch greifbar gemacht.
Mit Ray Chenez, David DQ Lee und Dmitry Egorov als Schwesterntrio Irina, Mascha und Olga, dazu mit Eric Jurenas als viertem Countertenor in der Rolle der Natascha kann die Frankfurter Oper hier eine eindrucksvolle Garde exzellenter Vertreter ihres Stimmfachs präsentieren, die stimmlich und darstellerisch allen Anforderungen der Partien glänzend gerecht werden. Die Schwestern werden dabei von den Sängern in Spiel und Gesang als Individuen charakterisiert und voneinander abgesetzt. Dies wird zudem durch die kluge Kostümgestaltung noch unterstrichen.
Stimmlich aufhorchen lässt auch Mikolaj Trabka bei seinem überzeugenden Rollenportrait als verzweifelter Bruder Andrei, der der Dominanz seiner Frau Natascha nicht entgehen kann. Die weitere Garde der Funktionsträger aus der russischen Provinz sind mit Mark Milhofer als Doktor, Kresimir Strazanac als Tusenbach, Barnaby Rea als Soljony, Thomas Faulkner als Kulygin und Iain MacNeil als Werschinin vorzüglich besetzt. Für die alte Amme Anfisa wünscht sich der Komponist einem besonders tiefen Bass, der in der Frankfurter Aufführung bestens von Alfred Reiter gegeben wird.
Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester spielt unter der Doppelleitung von Nikolai Petersen auf der Hinterbühne und unter der Gesamtleitung von Dennis Russell Davies unter den besonderen Balanceanforderungen der weit voneinander entfernten Orchestergruppen ohne Probleme und als ob es diese akustisch schwierige Aufstellung gar nicht gäbe.
Begeisterter und lang anhaltender Beifall des Premierenpublikums für das Ensemble und das gesamte Leitungsteam, viele Bravorufe für die Countertenöre, Mikolaj Trabka sowie die Regisseurin und die Dirigenten. Die erste Frankfurter Spielzeitpremiere macht dem Opernhaus des Jahres 2017 und seiner engagierten Programmpolitik alle Ehre.
Achim Dombrowski
13. September 2018 | Drucken
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