Unerbittliche menschliche Gewalt - Aus einem Totenhaus bei der Ruhrtriennale 2023

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Aus einem Totenhaus

(Leoš Janáček)

Premiere am 31.08.2023 

Besuchte Aufführung am 06. September 2923

Ruhrtriennale 2023

Jahrhunderthalle Bochum

 

Janáčeks Aus einem Totenhaus basiert auf dem Prosawerk Dostojewskis, der 1849 wegen Mitgliedschaft in einem revolutionärem Geheimbund zunächst zum Tode verurteilt, dann zu vier Jahren Zwangsarbeit im Straflager in Sibirien begnadigt wird und der in dem bis 1862 veröffentlichen Text seine Erfahrungen verarbeitet. 

Es ist Janáčeks letzte Oper, welche er als schwer leserliches,  handschriftliches Autograph mit selbstgezogenen Notenlinien hinterlassen hat. Sie wurde 1930 posthum in Brünn uraufgeführt. Wie auch bei seinen anderen Opern, haben Freunde und Musiker wohlmeinende romantisierende Verbesserungenangebracht und über Zwischenstufen gelang erst 1990 die vollständige Rückkehr zur authentischen Fassung durch Charles Mackerras und John Tyrrell.   

Der Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov zusammen mit seinen langjährigen Teammitgliedern Elena Zaytseva (Kostüme) und Gleb Filshtinsky (Licht Design) legt größten Wert darauf, auch durch die spezifischen Raumverhältnisse der Jahrhunderthalle die absolute Identifikation des Zuschauers mit den Gefangenen zu schaffen. Es soll kein „wir“ und „sie“ geben. Die Trennung in Bühne und Zuschauerraum ist aufgehoben. Dem Betrachter soll bewusst sein, dass auch er selbst leicht zu den gezeigten Gewaltausbrüchen gegen andere Menschen fähig ist und dass die zivilisierende Schutzschicht nur allzu dünn ist.  

Die Inszenierung folgt damit Dostojewskis Überzeugung „Die Eigenschaften eines Henkers sind im Keime in fast jedem Menschen unserer Zeit vorhanden“.

In der ganzen Länge der riesigen Halle ist eine Stahlgerüstkonstruktion errichtet mit drei Ebenen für die Zuschauer: zwei Stockwerke in die Höhe und die eigentliche, ebenerdige Spielfläche. Die Zuschauer umgeben die Akteure in unmittelbarer Nähe und über den gesamten pausenlosen Ablauf stehend.  

So ganz einzigartig ist das nicht: schon 2010 nimmt Benedikt von Peter sein gesamtes Publikum bei Nonos Intolleranza 1960 mit auf die Bühne der Oper in Hannover, wo ebenfalls ein Einheitsraum und ein gemeinsames Agieren der Darsteller mit dem Publikum erfolgt, wenn auch aus anderen dramaturgischen Überlegungen.

Mit drastischen Mitteln sorgen in Bochum von Beginn an und bereits während des Ouvertüre die sieben Mitglieder der Stunt Factory für die Darstellung der Gewalt unter der Häftlingen. Wer hier nicht mithält oder hinfällt, d.h. zu schwach ist, wird erbarmungslos getreten und misshandelt. Bei der Aufführung zweier sogenannter Theaterstücke im zweiten Akt wird in diesem brutalen ‚Spiel‘ mit Exkremente-Kübeln gearbeitet, deren Inhalt reichlich und schwungvoll möglichst alle Beteiligten beschmiert. Von weitem erinnert dieses Bild an vergleichbare Mittel bei Kosky in seiner Hannoveraner Produktion von 2009, die allerdings im traditionellen Theaterraum stattfand.   

Es gibt in der Oper wie in der literarischen Vorlage keine geschlossene Handlung. In der Welt der Gefangenen entwickeln sich vielmehr archetypische Verhaltensweisen der Gewalt, der Erniedrigung und menschlicher Brutalität. Musikalisch arbeitet Janáček mit abgehackten Wort- und Ton- bzw. Motivkürzeln, die ihren kompositorischen und inhaltlichen Charakter ausschließlich in der tschechischen Sprache bewahren. 

Im Mittelpunkt stehen die erzählerischen Darstellungen von vier Lagerinsassen.  Bei diesen vier Protagonisten kommen in Bochum die  weltweit ausdrucksstärksten Charakterdarsteller der Oper zusammen.

Der Šiškov von Leigh Melrose hat im dritten Akt den längsten und quälendsten Part im Nachvollzug der Gewalt- und Bluttat an der jungen Akulina, einer wirren Geschichte von Mannesehre, weiblicher Unschuld, vermeintlichem oder echtem Betrug und grausamem Mord. Melrose, für den die Opernwelt erst in den schwierigen und belastenden Rollenwelten eines Wozzeck überhaupt zu beginnen scheint, steigert sich in seiner Darstellung, Abarbeitung und Ansätzen einer Aufarbeitung ( -? ) komplett in den Hergang des Mordgeschehens hinein. Der Sängerdarsteller kennt keine Schonung, beim Publikum nicht und schon gar nicht bei sich selbst. Dem Betrachter gefriert das Blut in Adern.   

John Daszak singt und spielt den Skuratov, Stephan Rügamer den Luka, Alexey Dolgov den Sapkin. Sie alle stehen in ihren individuellen Rollengestaltungen der Leistung von Melrose in keiner Weise nach.   

Eindrucksvoll weiterhin Johan Reuter als Alexandr Petrovič Goryančikov sowie Neil Shicoff als Der Alte. Mit ekliger Selbstgefälligkeit und strotzendem Zynismus agiert Peter Lobert als Platzkommandat. 

Der junge Tatar Aljeja wird klangschön und beklemmend vom Tenor Bekhzod Davronov verkörpert. Die bei Mackerras noch mit einer Sopranstimme besetzte Partie wird damit – der Praxis vieler Aufführungen der letzten Jahre folgend -  ebenfalls von einem Mann dargestellt. Schließlich wagt man in Bochum auch noch die Partie der Lagerdirne - überzeugend - mit dem jungen Countertenor Vladyslav Shkarupilo zu besetzen. Es wäre ansonsten die einzige (verbleibende) Frauenrolle in diesem Werk gewesen. 

Der Männerchor der Janáček-Oper des Nationaltheater Brno unter der Leitung von Martin Buchta webt stimmungsvoll die oft auf Vokalisen beruhenden Gesangsteile ein. 

Die Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Dennis Russell Davies sind das eigentliche Rückgrat der Partitur. Wie bei Bartoks Herzogs Blaubarts Burg und Debussys Pelleas und Melisande werden die Klangwelt und Atmosphäre des Werkes ganz wesentlich vom Orchester bestimmt. Die Musiker sitzen am Rande der geschilderten Aufbauten. Die vielen schwierigen, abgehackten und steil auflodernden Klangballungen werden grandios gemeistert. Dabei werden viele individuelle Leistungen bei den unterschiedlichsten Instrumenten hörbar.  Es ist erstaunlich, dass unter diesen Bedingungen eine solche, in höchstem Maße gelungene Klangbalance aller Beteiligter gelingt.  

 

Tcherniakov verweigert alle Symbole oder Akte der Hoffnung, die in dem Werk vorkommen: der verletzte Adler, der am Ende wieder fliegen kann, kommt nicht vor und die unerwartete Entlassung Goryančikovs ist nur ein kurzes Gespinst. Der Gefangene bleibt mit einem lauten zwanghaft und schmerzhaft-wahnsinnigen Lachen zu den Schlusstakten im Lager zurück.   

Janacek selbst spricht von „...lichten Stellen im Totenhaus.“ Und Dostojewski sagt über die Häftlinge: „Und da er tatsächlich ein Mensch ist, so muss man auch in menschenwürdiger Weise mit ihm umgehen. Oh Gott, kann doch eine wahrhaft menschliche Behandlung sogar jemanden (...) wieder zu einem Menschen machen!“

So wäre das Werk also doch ein Appell an die Menschlichkeit? Ein Ansatz, den der Regisseur nicht bieten will – dieser Appell und das dringende Bedürfnis dazu muss also der Zuschauer selbst empfinden. 

Denn sonst wäre das Nichts.

Das Publikum ist wie erschlagen und dankt gleichwohl allen Darstellern, Chor und Orchester sowie dem Dirigenten mit lautstarkem Beifall.  

Achim Dombrowski

 

Copyright: Volker Beushausen, Ruhrtriennale 2023

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