Premiere am 23. Januar 2022
Komische Oper Berlin
In der Komischen Oper Berlin hinterfragt der Regisseur Damiano Michieletto den Orpheus-Mythos auf seine Aktualität.
Die Neuinszenierung des Werkes basiert auf der nur leicht gekürzten Fassung der 1762 im Burgtheater uraufgeführten sogenannten Wiener Fassung der Oper. Später hat der Komponist Christoph Willibald Gluck das Werk für Paris umgearbeitet. Die Komposition ist Teil der Bemühungen des Komponisten für eine Reform der Barockoper, die zur Zeit Glucks durch ein Übermaß an effektvollen, vor allem äußerlichen Effekten und überzogenen, nicht inhaltlich ausgerichteten Sängerkunststücken gekennzeichnet war. Gluck ging es um eine künstlerisch-wahrhaftige Vereinfachung und Fokussierung der Musiksprache, um eine neue Lebensnähe und Glaubwürdigkeit der Oper zu erreichen.
Dazu bediente er sich des Orpheus-Stoffes, der gewissermaßen seit der Erfindung der Oper, z.B. bei Monteverdi bis ins 20.Jahrhundert hinein, in mindestens nicht weniger als 60 Opernrealisierungen, außerdem in Operetten, Balletten, Kantaten und Sinfonischen Dichtungen verarbeitet wurde.
In der Handlung trauert Orpheus um seine Eurydike. Amor ermuntert ihn, ihr in die Unterwelt zu folgen. Dort beeindruckt er die Furien mit seinem Trauergesang. Er darf Eurydike wiederbegegnen, sie aber nicht anschauen. Als Eurydike verzweifelt auf dem Zeichen einer Zuneigung besteht, wendet er sich ihr zu. Eurydike verschwindet erneut bis Amor die beiden Liebenden in ein glückliches Ende entlässt.
Statt in mythischer Vorzeit erleben wir die beiden Protagonisten in einer aktuellen, alltäglichen Umgebung. Die Liebe der Partner ist erloschen. Orpheus verlässt seine Eurydice. Er durchleidet sodann intensive Verlustgefühle.
Die Szene von Paolo Fantin bestehet aus einem klinisch-weißen Raum, der sich in seinen Perspektiven während des Abends auf unterschiedliche Weise wandelt, und das Umfeld eines Krankenhauses oder einer Psychiatrie darstellt.
Die Figuren der Handlung bewegen sich in heutiger Kleidung (Kostüme von Klaus Bruns) und zeitgemäßer Gestik, lediglich Amor erscheint in einer Art Conferencier-Outfit mit großem Stock und später revue-haftem Glitzer-Anzug. Er führt das Paar durch seine eigenen Irrungen und Wirrungen des großen Rätsels der Liebe. Nichts geschieht, ohne dass Orpheus oder Eurydice es selbst so direkt bewirken oder in ihrer Gefühlswelt empfinden. Ihre Liebe ist abhanden gekommen, sie verlassen einander, um sich sodann nach dem anderen zu sehnen, Verlustschmerz zu spüren. Sie können sich trotz einer langjährigen und vermeintlich engen Bindung nicht mehr begreifen, sie verzweifeln. Aber sie finden am Ende der womöglich unvermeidbaren Lehrstunde der Liebe wieder zueinander. Vielleicht ist dies auch ein Neubeginn oder der Anfang einer neuen, tieferen Empfindung.
Die überaus einfache und klare Personenführung wird auf der Bühne ergänzt durch die stimmlichen grandiosen Mitglieder des Chores, welche als Patienten des imaginierten Krankenhauses oder wie in eine im Kokon anonymisierten Kostümgestaltung als Furien auftreten. Daneben verkörpern drei Tänzerinnen (Alessandra Bizzarri, Ana Dordevic und Claudia Greco) die verwirrenden Abbilder Eurydices, u.a. in der langen instrumentalen Passage gegen Ende des Stückes, in der sie in der Wahrnehmung Orpheus‘ gleichsam zu zerschmelzen drohen, ohne dass er sie auffangen oder beleben könnte. Daneben ergänzen Mitglieder der Komparserie in Patientenkleidung und mit Tierköpfen die realistisch-irrealen Traumwelt.
Die Einfachheit der Szene, die Geradlinigkeit der Personenführung, die klare Choreographie aller Beteiligten und die einfühlsame Lichtregie von Alessandro Carletti schaffen am Ende eine imaginäre Reise durch das Land der Liebe, welche auf seine ganz eigene Weise von jedem Paar erfahren, erlitten und erobert werden will. Es bleibt ein wenig auch das Geheimnis des Teams, wie und warum diese schwebende, moderne und feinsinnige Entwurf so tief berührt. In jedem Fall verwirklicht diese Umsetzung den Gedanken der Lebensnähe der Oper für eine heutige Generation in eindrücklicher Weise.
Aber natürlich haben die großartigen Sänger ihren Anteil daran. Die Komische Oper weiß erneut ein bestens besetztes Ensemble zu präsentieren. Grandios der charismatische Countertenor Carlo Vistoli als Orpheus. Sein leidenschaftliches Engagement bei souveräner Stimmführung und klarer und schnörkelloser Tongebung machen die Aufführung zum Erlebnis. Bewegend und in ihrer emotionalen Ausgestaltung anrührend verkörpert Nadja Mchantaf die Eurydice. Als Mitglied des Opernstudios des Hauses präsentiert Josefine Mindus einen spielfreudigen, klugen und stimmlich wie darstellerisch ungemein einnehmenden Amor.
Für das Fach der Gluck’schen Reformoper ideal findet das Vocalconsort Berlin eine facettenreiche Umsetzung der anspruchsvollen Chorpartie.
Am Pult des Orchesters der Komischen Oper Berlin bewährt sich David Bates in seinem Hausdebut. Der Spezialist für Barock- und Frühklassik vermag die Schnörkellosigkeit der Szene auch aus dem Orchestergraben überzeugend mitzutragen.
Noch während des Schluss-Applauses ereignet sich eine zweite Performance an diesem Premierenabend. Statt einer üblichen Premierenfeier tritt Barrie Kosky vor das Publikum und dankt neben allen Mitwirkenden auf der Bühne auch den vielen unsichtbaren guten Geistern, die in dieser schwierigen Phase den Spielbetrieb ermöglichen. Von der Inspizienz, über die Regieassistenz bis zum sprichwörtlich unermüdlichen künstlerischen Betriebsbüro, das die hunderte von Corona-Tests für das gesamte Ensemble bewerkstelligt. Gefühlte 51-Mal fordert er das gerne und begeistert mitziehende Publikum zum Beifall heraus. Der Schluss mündet in seine hoffnungsfrohe Aussage, dass die Zuschauer nach der mühsamen Zeit der Pandemie in neuer Freude die Theater und Opernhäuser noch mehr als je zuvor wieder füllen werden. Die unmittelbare und begeisterte Reaktion des gesamten Auditoriums gibt zu höchsten Erwartungen Anlass!
Achim Dombrowski
Copyright: Iko Freese/drama-berlin.de
26. Januar 2022 | Drucken
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