Der Idiot in Salzburg - Jubel für großes Musiktheater brillant in Szene gesetzt

Xl_der-idiot-2024-c-sf-bernd-uhlig-014 © SF / Bernd Uhlig

Mieczyslaw Weinberg Der Idiot Salzburger Festspiele 2.8.2024

Der Idiot in Salzburg - Jubel für großes Musiktheater brillant in Szene gesetzt

Nach der Festspieleröffnung mit einer konzertanten Aufführung von Richard Strauss Capriccio folgt nun mit der Premiere von Mieczyslaw Weinbergs letzer und selten gespielter Oper Der Idiot die mit Spannung erwartete erste szenische Neuinszenierung auf die Bühne der Felsenreitschule. Die Handlung erscheint im Programmheft umfangreich und für Dostojewski typisch mit einer Vielzahl von Handelnden und dramatischen Verstrickungen. Umso prägnanter fasst sie Krzystof Warlikowski in großen Buchstaben auf der Bühnenwand zusammen. „Nastassja 25 Jahre. Sie verlässt ihn. Er tötet sie“.

Nastassja Filippowna Baraschkowa ist eine Zerrissene, eine Femme fatale. Vom Großgrundbesitzer Totzki aufgezogen und zur Geliebten gemacht, ist sie auf der Suche nach der richtigen Verbindung. Fürst Myschkin ist der Titelheld, wobei Idiot im Russischen eher naiver Tölpel übersetzt bedeutet. Er leidet an Epilepsie und trifft auf der Rückreise von einer Kur in der Schweiz im Zug Parfjon Rogoschin und Lukjan Lebedjew, die nach seiner Ankunft in Russland weiter seine Wege kreuzen. Myschkin verliebt sich aus Mitleid in Nastassja, Rogoschin aus wahrer Leidenschaft. Diese kann ihre Gefühle nicht deuten und irrt zwischen den beiden auf ihrer Selbstsuche. Vor der Hochzeit flieht sie und am Ende ersticht sie Rogoschin. Myschkin und Rogoschin legen sich im Schlussbild zur Toten. Die Tragödie wird kritisch von der edlen Gesellschaft begutachtet. 

Malgorzata Szczeniak kleidet die breite Bühne mit Holzpaneelen aus, mehrere Türen dienen für die Auftritte. Aus der Wand kann ein Raum als weiterer Handlungsort herausgefahren werden. Weiters gibt es eine Tafelwand, die immer wieder beschriftet wird. Videoprojektionen von Kamil Polak sorgen für besondere Effekte, wie ua die vorbeiziehende Landschaft während der Zugfahrt. Warlikowski und sein Team bespielen bravourös die große Bühne, nutzen den Raum mit viel Geschick, um den Handlungsfluss in Spannung zu halten und gleichzeitig unterschiedliche Orte rasch zu gestalten. Dabei geht der Handlungsstrang nicht verloren und kann leicht verfolgt werden. Die Kostüme sind zeitlos modern, bunt und elegant. Bestens ausgedacht ist die Personenregie, die den Charakter und die Gefühle der Personen und deren soziale Verstrickungen in der Gesellschaft gut erkennen lässt.

Eine wahre Entdeckung ist wiederum die Musik vom Mieczyslaw Weinberg. Wie in seiner mittlerweile öfters gespielten Oper Die Passagierin spiegelt sie raffiniert und facettenreich das Geschehen auf der Bühne wider. Ohne wuchtige Ausbrüche, sondern in subtiler moderner Tonsprache passiert im Orchestergraben eine harmonische Dichte. Mirga Grazinyte-Tyla versteht am Pult der bestens erklingenden Wiener Philharmoniker in jeder Beziehung, die Qualität der Partitur herauszuarbeiten und mit den Sängern zu harmonieren. 

Das Sängerensemble stammt zumeist aus russisch sprechenden Ländern, sodaß die Sprachbeherrschung im vorherrschenden Sprechgesang hörbar durchdringt. Bogdan Volkov glänzt in der Titelrolle. Er spielt den Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin als Außenseiter, der sich einer Umgebung stellt, die er nicht versteht, mit deren Direktheit und Rohheit er nicht umgehen kann. Er will helfen, aus Mitleid und auch Überzeugung vom Guten. Wie ein Fremdkörper bewegt er sich in seinem weißen Anzug, heller Haut und Haare auf der Bühne. Immer wieder droht seine Krankheit auszubrechen und er versucht zittrig sich mit Tabletten zu schützen, bis er von einem epileptischen Anfall niedergestreckt. Berührend hilflos liegt Volkov gekrümmt am Boden – die Bilder gehen unter die Haut. Stimmlich zeigt sich sein lyrischer Tenor flexibel, gut gestaltbar in Ausdruck und Farbe. Geschmeidig lässt er sich in der Mittellage führen und im Volumen dimensionieren. Ausrine Stundyte feierte 2020 auf der Bühne der Felsenreitschule ihren großen Erfolg als Elektra, ihr Beginn für eine internationale Karriere. Als Nastassja Filippowna Baraschkowa zeigt sie wieder ihr schauspielerisches Talent und setzt geschickt ihre Stimme als weiteres Gestaltungsinstrument ein und verleiht ihrem Sopran Vielfalt und Dramatik. Vladislav Sulimsky ist der leidenschaftliche Geliebte Nastassjas, Parfjon Semjonowitsch Rogoschin. Der Bariton aus Belarus legt Männlichkeit, Gefühl dosiert und Emotion verhalten in seine Gestaltung. Rund und voll ist seine Stimme, die er in der Melancholie der russischen Sprache wirken lässt. Iurii Samoilov wirkt in seiner Rolle des Lukjan Timofejewitsch Lebedjew als Moderator und begleitender Erzähler der Handlung. Dabei läßt ihn die Regie auch zum Magier werden. Seine Mimik und Gestik ist stark und bringt der Rolle Gewicht, wie auch sein kräftiger Bariton.  Xenia Puskarz Thomas ist als Aglaja Iwanowna Jepantschina eine würdige Widersacherin von Nastassja um die Gunst des Fürsten. Ihr Sopran ist hell und klar mit sicheren Höhen. Weiters zu erleben Clive Bayley als General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, Margarita Nekrasova Jelisaweta Prokofjewna Jepantschina und Pavol Breslik als Gawrila (Ganja) Ardalionowitsch Iwolgin, allesamt in exzellenter Darstellung und Erfüllung der ausgeklügelten Personenregie. Kurz aber wirkungsvoll auf der großen Bühne ist der Auftritt der Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, von Pawel Markowicz einstudiert.

Nach dreieinhalb Stunden bedankt sich das begeisterte Premierenpublikum mit großem Beifall und Jubel, auch für das Regieteam.  

Dr. Helmut Pitsch

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