BERLIN/Staatsoper: „Der Ring des Nibelungen“ Premiere vom 2.-9. Oktober 2022
Viele Ungereimtheiten und offene Fragen, zu viele…
Der insbesondere nach dem mäßigen Erfolg der Tetralogie an der Deutschen Oper Berlin – DOB in der Regie von Stefan Herheim schon so lange und viel diskutierte neue „Ring des Nibelungen“ an der Berliner Staatsoper Unter den Linden unter dem Dirigat von Christian Thielemann erlebte Anfang Oktober in der Regie von Dmitri Tcherniakov seine Premiere. Generalmusikdirektor Daniel Barenboim hatte Thielemann aufgrund seiner derzeitigen gesundheitlichen Situation die musikalische Leitung von zwei der drei Zyklen angeboten - eine großartige Geste. Für Christian Thielemann wurde dieser Ring mit der Staatskapelle einen triumphaler Erfolg. Dazu später mehr. Das Programmbuch Wenn man als Rezensent, und es sollen etwa 65 zu diesem nach der Bayreuther „Ring“-Neuinszenierung wohl zweitwichtigsten Wagner-Event des Jahres akkreditiert gewesen sein, das immerhin 260 Seiten umfassende Programmheft, besser Programmbuch, aufschlägt, sieht man als erstes Kapitel „Die Handlung“ von Dmitri Tcherniakov. Angesichts eines bei einem solchen Umfang überraschenderweise fehlenden Dramaturgen-Gesprächs mit dem Regisseur - selbst viel kleinere Häuser bringen ein solches regelmäßig in viel dünneren Programmheften - denkt man sofort, dass Tcherniakov in seinem immerhin 14-seitigen Kapitel zur Handlung des „Ring“ etwas über die Vision seiner mehr als ungewöhnlichen, ja zeitweise abenteuerlich von Wagners Oeuvre abweichenden Regie schreiben würde. Dabei gibt es mit Tatiana Werestchagina und Christoph Lang gleich zwei Dramaturgen. Weit gefehlt! Ja, es wirkt in diesem Kontext fast schon provokativ, wenn Tcherniakov die Handlung darstellt, wie man sie in jedem etwas ausführlicheren Opernführer lesen kann und wie sie den weitaus meisten Besuchern, die es in diese seit langem total ausverkaufte Premiere geschafft haben, bis ins letzte Detail geläufig ist. Er wollte wohl sagen: Seht Euch meine „Ring“-Interpretation an, und es wird keine Fragen geben, wie in „Arabella“ von Richard Strauss - denn klarer geht es doch gar nicht! Mit dem Programmbuch, von dessen durchaus lesenswerten zehn Aufsätzen nur einer in einer gewissen Beziehung zur Regie Tcherniakovs steht, jener von Michael Gamper über „Künstlerische Experimente im 19. Jahrhundert“ wurde - ebenfalls recht ungewöhnlich - ein äußerst umfangreicher unkommentierter Hochglanz-Bildband mit Szenenfotos wie eine Art optischer Wegweiser durch die vier Abende gereicht.
Denn wir haben es bei Tcherniakov in der Tat mit einer Versuchssituation zu tun, die sich in der Forschungsanstalt E.S.C.H.E. - nomen est omen - abspielt, deren Aufriss mit über 100 Räumen führerbunkerartig vor dem „Rheingold“ auf dem Bühnenparavant zu sehen ist und im Übrigen in ähnlicher Geometrie auch das Programmbuch deckelt. Die Forschungsanstalt E.S.C.H.E. – das Regiekonzept Tcherniakov bricht also die universale „Ring“-Geschichte mit ihrem von Wagner für so bedeutsam gehaltenen Mythos auf die Mikro-Ebene einer Forschungsanstalt herunter, wo dieser Universalanspruch zugunsten sich gelegentlich ins Unglaubliche steigernder Profanität und Banalitäten nicht nur verloren geht, sondern auch eine vollständige Zerstörung mythischer Elemente bewirkt. Beides führt immer wieder zu ernsthaften Konflikten des in Berlin zu sehenden Geschehens mit Wagners grandioser Musik.
Dabei steht im Programmbuch sogar ein Aufsatz von Günter Zöller zu „Alles was ist, endet“ – Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ als Weltgeschichtsphilosophie“ in eklatantem Gegensatz zur Regie Dmitri Tcherniakovs. Häufig führte dieses Maß an Widerspruch des Szenischen von der Musik, die im gesamtkunstwerklichen Verständnis Wagners in engstem Zusammenhang mit der von ihm konzipierten Handlung und entsprechenden (heute allerdings kaum noch ernst genommenen) Regieanweisungen stehen sollte, zu musiktheatralisch unglaubwürdigen Momenten, ja bisweilen gar zu völligem dramaturgischem Widerspruch. Dabei konnte dieses sehr eng ausgelegte „Ring“-Konzept auch nicht stringent durchgehalten werden, ähnlich wie die sogenannte „Netflix-Familiensaga“ von Valentin Schwarz in Bayreuth. Immer wieder ist unklar, wer Objekt der Verhaltensforschung ist und wer der Forscher. Manchmal sind es auch dieselben Figuren in unterschiedlichen Szenen, was zu einer weiteren Verwässerung des Ansatzes führt, die mit fast klassischem Wagner-Theater im 2. Aufzug der „Götterdämmerung“ ihren Höhepunkt erreicht. Wenn man von den albernen Handies der Mannen und - offenbar im Bestreben um politische Korrektheit von Wagner aber zu Beginn der Chorszene überhaupt nicht vorgesehenen „Männinnen“ absieht. Denn diese kommen erst eine ganze Szene später mit Gutrune und Gunther. Hagen ruft nämlich mit seinem berühmtem Mannen-Ruf nur sein männliches Heer zusammen.
Die oft fehlende Stringenz des Konzepts mit zu vielen Ansätzen, die nicht überzeugend oder gar nicht weiterverfolgt werden bei gleichzeitig sich allzu sehr ähnelnden szenischen Lösungen in einem im Laufe der vier Abende immer monotoner, da auch simpler werdenden Bühnenbild von Tcherniakov selbst, machte immer wieder purer Langweile Platz. Dazu eine nahezu komplett abwesende Lichtregie von Gleb Filshtinsky, der immerhin den „russischen Ring“ von V. Gergiev 2003 phantastisch ausleuchtete, hier aber fast ständig auf Vollbeleuchtung setzt.
Die Kostüme
Hinzu kommen die meist unsäglichen profanen Kostüme von Elena Zaytseva, die Hässlichkeit, Banalität und Spießertum verherrlichen, entweder die Alten in spießerhafter oder schmuddeliger Dekadenz zeigen, oder beides, oder die Jungen in banalen Outfits - wie Siegfried in einen hellblauen Jogging-Anzug mit der neudeutschen Einheits-Schuh-Variante „Turnschuh“ steckt. Alberich muss in der „Götterdämmerung“ gar nahezu kostümlos agieren. Zaytseva gönnt ihm grade noch eine lumpige Unterhose, und einen Strickpulli in Grau fertig er sich im Hörsaal sogar selbst an… Die Mannen der „Götterdämmerung“ mit Siegfried im Schlussaufzug verwandelt Zaytseva kurzerhand in eine Basketballmannschaft, deren grüne T-Shirts und graue Shorts an eine Spielerversammlung des FC Wolfsburg erinnern. Wenn Hagen dann Siegfried mit dem Stock der Clubfahne das Rückgrat bricht, schaltet auch das letzte Verständnis für die vermeintlichen Vorzüge des Wagnerschen Regietheaters ab. Banaler und flacher geht es kaum noch. Dabei kann es doch so gutes Regietheater geben!!
Das Bühnenbild
Im „Rheingold“ wirkt alles noch vordergründig interessant. Denn es wird mit technischer Eloquenz das Bühnenbild der gesamten Produktion unter Aufbringung der gesamten vor kurzer Zeit komplett renovierten Bühnentechnik eindrucksvoll vor Augen geführt. Von links nach rechts und oben nach unten sehen wir etwa sechs verschiedene Räumlichkeiten, durch ihre Hinterwände fast immer akustisch ideal für die Sänger. Im 1. Bild des „Rheingold“ sehen wir ein volltechnisiertes Behandlung-Zimmer, in dem Alberich auf einem Untersuchungssessel wie auf einem elektrischen Stuhl vollverkabelt den ersten Test über sich ergehen lässt. Die Kopf-Verkabelung mutiert später zum Tarnhelm. In dieser Zelle hinter Glas wird Wotan Brünnhilde später auf einer Praxis-Pritsche zum Schlafe betten, Siegfried sie erwecken und sich zu Beginn des 3. Aufzugs der „Götterdämmerung“, nun als „Stress-Labor“ gekennzeichnet, den „Rheintöchtern“ einem Stress-Test unterziehen. In der zweiten Szene strebt das Bühnenbild weiter über einen kleinen Zwischen-Raum mit Medikamenten-Schränken und gelangweiltem Untersuchungspersonal in eine Art Vorlesungs- oder Hörsaal mit den mittlerweile auf der Wagnerschen Regietheater-Bühne obligaten Wartezimmerstühlen aus einer Stahlrohr-Holz- oder Plastikkonstruktion.
Die „Meistersinger“-Stühle aus der DOB kommen in den Sinn - und bei weitem nicht nur diese! Diese Stühle scheinen mittlerweile das zu werden, was früher die Koffer waren. Nur Stefan Herheim setzt an der DOB noch auf Koffer. Daneben liegt ein kleiner bordeaux-marmorierter Sitzungs-Saal mit goldenen Gelehrten- und Künstler-Portraits an der Wand. Es folgt das Exekutiv-Büro Wotans als Leiter der Forschungsanstalt mit einem Schreibtisch voller ungeordneter Akten -„Ordnern“. Es herrscht wohl schon jetzt einiges Chaos hier… Einige Räume haben auch noch eine Galerie.
Für Nibelheim geht es zum 3. Bild in die Tiefe. Über ein Zwischendeck mit etlichen edelstahlbewandeten Kaninchen- und Meerschweinchen-Batterien in gleißendem Licht - es wird ständig alles VOLL ausgeleuchtet, eine Lichtregie fehlt eben völlig, oder sie ist einfach keine! - gelangen wir noch eine Etage tiefer per Aufzug in Alberichs Welt. Sie ist ein aus engen Arbeitszellen bestehendes technisches Büro mit computergesteuerter Kleinarbeit einiger weniger Nibelungen. Wenn es zum vierten Bild wieder nach oben geht, natürlich vorbei an den völlig phlegmatischen Kaninchen und Meerschweinchen, kommt noch das 4. Bild mit einer großen „Weltesche“ sic E.S.C.H.E.-Forschungsanstalt, allerdings mit ganz anderen Blattständen, eher denen einer Linde ähnlich - in der Mitte und einer Art Wartebank drum herum.
Das war’s im Wesentlichen, konzeptimmanent ganz ansehnlich beim ersten Eindruck im „Rheingold“, aber immer uninteressanter über die folgenden 14 Stunden, die von der Wiederholung dieser Räume „leben“, mit immer wechselnden Figuren darin oder an ihren Außenseiten. Denn es kommt eigentlich nur noch ein hypermodernes vollintegriertes Ausstellungs-Apartment mit eingebauter Küche, WC, Dusche und Waschmaschine sowie kleinem Schlafzimmer neu dazu. Es ist zunächst Hundings moderne „Hütte“. Gleich drauf findet auch hier die Auseindersetzung zwischen Fricka und Wotan statt. Tags drauf ist es Mimes „Höhle“, in der er Siegfried groß zieht, und schließlich der Brünnhilde-„Felsen“ in der „Götterdämmerung, wo sie sich von Siegfried verabschiedet, von Waltraute besucht wird und Siegfried sie als Gunther in Siegfried-Optik überwältigt. Hier schauen auch schonmal die stark gealterten (!) Nornen am Stock vorbei und wundern sich über die gute Qualität der technischen Küchen-Ausrüstung… Wotan betrachtet das Treiben in Hundings „Hütte“ durch eine nur von ihm aus transparente Scheibe aus seinem Büro - also in einer nicht wirklich nachvollziehbaren Versuchsanordnung.
Dann gibt es im „Siegfried“ noch einen kleinen nüchternen Raum mit Behandlungsstuhl und Aufzug, in dem der Jungbursch Fafner als Verstörten in Zwangsjacke mit dem Stumpf des nicht geschmiedeten Schwertes erledigt und anschließend mit dem Waldvogel flirtet, einer jungen Laborangestellten mit Spielzug-Vögelchen. Die stärksten Momente sind fast die wenigen, in denen alle diese Bühnensegmente mit ihren Banalitäten die Bühne völlig freigeben und eine Figur oder zwei auf freier Fläche mit ihrem Schicksal allein dastehen - wie bei Wotans Abschied in der „Walküre“ oder als Alberich einmal verloren - wenn auch nur in Unterhose - über die leere Bühne wandelt.
Bisweilen senkt das ständige Durchschreiten von Türen der sich oft viel zu viel drehenden Bühnenräume deren dramaturgische Wirkung signifikant ab und führt zu theatralischer Verflachung. Die Ungereimtheiten – um es diplomatisch auszudrücken… Es gibt diese am laufenden Band, sodass hier nur einige genannt sein sollen. Die größten entstehen immer da, wo die Bühnenaktion nicht nur nicht im Einklang mit der Wagner-Dramaturgie steht, sondern diese sogar noch konterkariert, als wäre es völlig gleichgültig, was Wagner da ausdrücken wollte.
Es geht gleich im „Rheingold“ mit den Kaninchen und Meerschweinchen los, die offenbar die Situation der Forschungsstation zur „Untersuchung menschlicher Verhaltensmodelle in einer Testgruppe“ metaphorisch unterstreichen sollen. Ganz abgesehen davon, dass es für diese Tiere mit bekanntlich ausgeprägtem Fluchtverhalten sicher kein Vergnügen ist, längere Zeit in großer Helligkeit und bei für sie lauter Musik in silberglänzenden Käfigen auszuharren, erscheint ihre Präsenz auch dramaturgisch äußerst zweifelhaft und also nicht nachvollziehbar, falls so etwas überhaupt beabsichtigt sein sollte. Denn an ihnen kann man wohl nicht gerade menschliche Verhaltensmodelle testen, deren Analyse die Inszenierung ohnehin unsinnigerweise durch vermeintliche bis halbseidene Experimente vorgibt. Oder will man etwa aus dem Verhalten eines Kaninchens oder gar Meerschweinchens, selbst nach Verabreichung einer medizinischen Substanz, ableiten, dass es sich dann ähnlich wie ein Mensch verhält?! Man hätte die Tiere also gleich in ihrer regelmäßig lichtgeschützten Holz-Unterkunft belassen können. Oder sich bei Hans Neuenfels mit seinem „Lohengrin“ in Bayreuth 2013 ff. umsehen können. Der hat die - also auch gar nicht neue Idee mit der Versuchsstation und ihren Ratten (aber in Form von Statisten!) bestechend schlüssig umgesetzt - ein Könner des Regietheaters eben… Die Tiere sollten also für den 3. Zyklus ab dem 29. Oktober unbedingt erlöst werden. Der Tierschutzverein wurde von einigen Zeugen umgehend verständigt, und namhafte Wagnersänger meldeten sich bereits zu klarem Wort.
Im „Rheingold“ gibt es auch wieder einen berühmten handwerklichen Fehler, der erste von so manchen. Als Wotan zu Fricka sagt, „Um dich zum Weib zu gewinnen, mein eines Auges setzt‘ ich werbend daran.“ zeigt er auf sein erblindetes! Dabei ist das sehende gemeint, denn das erblindete hat er an der Wurzel der Weltesche bei der Suche nach Weisheit am Quell derselben verloren. Es ist gerade für seinen (unternehmerischen) Mut bezeichnend, durch den er sich von allen anderen potentiellen Weltherrschern abhebt, dass er sein letztes Auge für Fricka als seine Frau verwettet hat. Hätte er sie nicht gewonnen, wäre er vollständig erblindet und für die Rolle, die er vorhatte, verloren gewesen. Dass so ein Stockfehler immer noch passiert!
Während über den ganzen Berliner „Ring“ ständig geraucht wird - Wotan fängt damit an, aber auch Fafner, Siegfried, Hagen, die Nornen und andere greifen ständig zum Glimmstängel, des weiteren ständig Brillen geputzt werden, alles mittlerweile langweilende postmoderne Stereotype, haut Alberich mit einem schlichten Prügel zur Disziplinierung total primitiv auf die Tische in Nibelheim, wo seine Sklaven PC-unterstützt an Filigranem mit Feininstrumenten herumbasteln. Mit den beiden Alberich-Verwandlungen macht man sich nicht die geringste Mühe, was aber zu erwarten war. Dabei wären genau die tolle Experimente gewesen! Dass Erda schon bei einer betrieblichen Lagebesprechung mit Kollegen am Konferenztisch sitzt und sich erst später als junge „Urmutter“ entpuppt, entbehrt eines jeden, auch noch so exotischen Erklärungsversuchs. Statt dass Fricka mit Schrecken gewahrt, dass ihr hier eine Nebenbuhlerin erwächst, wie das u.a. in Lübeck und Erl zu sehen war, kontrolliert sie gelangweilt ihre Fingernägel…
Das Finale des „Rheingold“ wird völlig veralbert, indem Donner und Froh kleine pyromanische Experimente zur Belustigung der Angestellten machen und Froh eine Regenbogenfahne wie ein Zauberer aus dem Ärmel schüttelt. Zwischendurch brennt auch mal Wotans Brieftasche… Immerhin nimmt er am Ende eine sehr nachdenkliche Pose an. Das wirkte dann doch in eine verständliche Richtung. Zum Vorspiel zur „Walküre“ wird zunächst einmal polizeilich mit entsprechender Datenkennung per Video ein aus der Haft entflohener Siegmund gesucht. Hunding kommt als Polizist mit Schiebermütze (gähn!), bekommt sofort Pantoffeln an, legt Siegmund aber lieber noch die Handschellen an, bevor er für alle sichtbar in den Schlafanzug stiegt und sich mit Sieglinde ins Bett legt.
Zum herrlichen Vorspiel des 2. Aufzugs stopfen Siegmund und Sieglinde erstmal hektisch ihre Garderobe in große Einkaufsbeutel und verschwinden erst kurz bevor Wotan auftritt und die Sektkorken knallen lässt. Ein Konterkarieren der Musik par excellence! Die Szene Wotan-Fricka im selben Raum, also Hundings Hütte, wird zu einer reinen Bürokratie-Orgie. Sie legt alle möglichen Akten vor, und er muss unterschreiben, darf aber großzügigerweise den Kuli behalten. Wenn man bedenkt, was hier bei Wagner verhandelt wird, ist das ein Witz! Siegmund und Sieglinde müssen danach erst bei den armen Kaninchen und Meerschweinchen vorbei nach Nibelheim flüchten. Das Ende Siegmunds vollzieht aber auf völlig leerer Bühne, allerdings auch so kaum verständlich. Auf Wotans „Geh!“ zieht sich der Polizist Hunding ordnungsgemäß aus seinem Dienst zurück, während Siegmund im Hintergrund von einem Schlägertrupp abgemurkst wird. Sollte das nun ein Experiment sein ?! Ich hätte es so gern erfahren.
Obwohl der berühmte „Walküren-Ritt“ doch von einiger Bewegung zeugt, sieht man im 3. Aufzug die acht Schwestern lässig nach dem Workout in Trainingsanzügen in den Reihen des Hörsaals sitzen oder besser herumhängen. Die Trainings-Rucksäcke dürfen nicht fehlen. Von herumirrenden Helden fehlt jede Spur. Dabei hätten doch gerade die sich so trefflich für eine Analyse menschlicher Verhaltensmodelle geeignet. Statt eines Feuerzaubers, der natürlich nicht zu erwarten war, malt Brünnhilde mit Rotstift ein paar Wellen auf die Plexiglasscheiben ihres Untersuchungszimmers, banaler geht es nimmer! Danach ziehen beide aber in den Hörsaal, mit dem Wotan langsam von ihr zum Hintergrund hin wegrollt. Das war dann mal ein starkes Bild! Es war eigentlich Brünnhildes Abschied.
Eine der größten Übertreibungen passiert im 1. Aufzug des „Siegfried“. Statt das Schwert zu schmieden, welches immerhin in zwei Stücken zu sehen ist, brennt Siegfried zuerst auf dem Schreibtisch des Hausbesorgers Mime sein brennbares Kinderspielzeug ab und schlägt dann mit einem Riesenhammer die gigantischen Legobausteine kurz und klein, die ebenfalls seine Kindheit prägten. Die Musik wird erheblich gestört. Jeder weiß, was das heißen soll, Siegfried trennt sich von seiner Kindheit! Aber muss das dem Besucher unbedingt mit dem Zaunpfahl, für den gerade der große Hammer hier stehen könnte, eingebläut werden?! Ist die Schwert-Schmiede an sich nicht bereits der von Wagner ebenso subtil wie klar formulierte Prozess des Abschieds von der Kindheit und der Loslösung vom und den Alten? Warum traut Tcherniakov, und nicht nur er, so nachhaltig dem Werk des Komponisten nicht? Was soll dann andererseits noch der Bär gleich zu Beginn?! Das Waldweben wird zu einer Versuchsreihe für Siegfried und damit jeglicher musikalischer Hingabe beraubt. Da gibt es mehrere schriftlich ausgewiesene Phasen wie „Versenkung und Meditation“, „Suche nach dem inneren Helfer“ oder „Kontaktaufnahme“ etc. Anschließend stößt Siegfried Fafner in Zwangsjacke nach einer Kettenstrangulierung dann doch ganz plump das untere Stück des Schwertes in den Rücken.
Beliebigkeit ist alles, von Experimenten kaum noch eine Spur! Die „Untersuchung menschlicher Verhaltensmodelle in einer Testgruppe“ läuft schon hier aus dem Ruder einer wie auch immer gearteten Nachvollziehbarkeit. Statt mit Erda allein zu parlieren, muss Wotan erstmal das Sitzungszimmer von den vielen Angestellten befreien, um mit ihr, wohl der Chefsekretärin, allein zu sein. Eines hat der Tcherniakov-„Ring“ mit dem Herheim-„Ring“ gemeinsam: Wieder tummeln sich über 30 Statisten auf der Bühne, bei Herheim in weißem Feinripp, bei Tcherniakov in meist spießigen Alltags-Roben - entbehrlich erscheinen sie jedoch bei beiden. Diese Unzahl an herumwuselnden Statisten verwässert ständig die Intensität der von Wagner konzipierten Figuren und ihrer Aussagen. Es geht damit viel an Konzentration verloren. Kurz bevor Siegfried eintrifft, legt der Wanderer - und das ist er hier eben ganz und gar nicht - Brünnhilde zu ihrem Spaß auf die Untersuchungs-Pritsche. Sie macht sich wiederum eine neckisch-kokette Hetz‘, quasi experimentell unter Siegfrieds belustigter Beobachtung „aufzuwachen“… Auf der Galerie stehen Wotan und die Nornen und sehen zu.
In der „Götterdämmerung“ haben die Gibichungen das Zepter übernommen und Sitzungszimmer und Büro auf modernste Art und Weise aufmöbeln und -stuhlen lassen. Dennoch bestimmt das wechselnden Bewohnern dienende vollintegrierte Ausstellungs-Apartment den gesamten 1. Aufzug und strahlt somit einige Langweile aus, zumal mit der ständig grellen Beleuchtung. Der fast nackte Alberich schmiegt sich Hagen im Hörsaal an, wozu er sein Pullover-Stricken unterbricht. Im Finale steht Brünnhilde mutterseelenallein auf der weiten Bühne mit der Reisetasche. Erda zeigt ihr wie zuvor eine Anstaltsassistentin Siegfried den motorbetriebenen Waldvogel! Musikalisch verhallt das ganze grandiose Finale im Nichts. Wagner wollte hier aber etwas ganz anderes sagen. Dmitri Tcherniakov meint wohl, er wisse es besser.
Die Personenregie
Eines muss man Regisseur Dmitri Tcherniakov lassen. Er kann Personen führen und eine ausgefeilte und mimisch intensive Personenregie konzipieren. Das war auch in diesem „Ring“ wieder der Fall, wobei ihm die große Wagner-Erfahrung der weitaus meisten Protagonisten und auch eine lange Probezeit zugute kamen. Allein, diese Personenregie fand in einem Regiekonzept statt das, wie hier beschrieben, einen Großteil des Publikums ganz und gar nicht überzeugte.
Das Sängerensemble
Die Berliner Staatsoper bewies ein äußerst gutes Händchen mit der Auswahl der Sänger für diese Neuinszenierung. Sie wurden mit Christan Thielemann zu einem Garanten musikalischer Qualität über alle vier Abende und konnten manches Ungemach der Inszenierung in seiner Bedeutung reduzieren, aber nicht vergessen machen. Michael Volle ist der wohl beste Rollenvertreter des Wotan derzeit weltweit. Was er an vokaler Intensität von „Rheingold“ bis „Siegfried“ in die Waagschale warf, bei einer phantastischen Darstellung der Rolle in ihren vielfachen Facetten, und dann sogar noch als stumme Rolle in der „Götterdämmerung“ - das war einfach einzigartig.
Anja Kampe wäre eine Brünnhilde auf Augenhöhe mit Volle und beeindruckte einmal mehr mit ihrer sängerisch betonten, warmen vokalen Ausstrahlung und einem äußerst emotionalen Spiel. Allerdings war zu merken, dass nach „Walküre“ im Finale des „Siegfried“ doch stimmliche Grenzen erreicht wurden, die auch in der „Götterdämmerung“ anklangen. Eine komplette Brünnhilde in einer Woche ist für die begnadete und charismatische Sängerin nicht das Empfehlungswerteste. Anja Kampe ist keine Hochdramatische.
Andreas Schager bestach mit einer enormen stimmlichen Kraft und Ausdauer als Siegfried. Er hat offenbar seine Stimmstärke mittlerweile etwas besser in den Griff bekommen, obwohl gerade in dieser Inszenierung subtile und zurückhaltendere Elemente der Rolle ohnehin nicht so bedeutsam sind. Sehr gut ist auch seine Textverständlichkeit und die Authentizität seines Spiels, obwohl man ihn hier eher zum Untypen machte. Johannes Martin Kränzle war wieder ein Weltklasse-Alberich mit einem samtenen, dennoch ausdrucksstarken Bassbariton und einer souveränen Darstellung, worin immer diese an seinen drei Abenden auch bestand.
Vida Miknevičiūte war eine optisch, sängerisch und schauspielerisch hinreißende Sieglinde und reüssierte auch mit einem starken Auftritt als Freia.
Rolando Villazón, man wunderte sich schon etwas über die Besetzung, konnte als Loge nicht den Eindruck machen, den diese zentrale Figur neben Wotan idealerweise machen sollte. Dazu war er nicht nur wegen der entsprechenden Personenführung verurteilt. Auch stimmlich erschien sein Vortrag nicht der passendste für einen Loge. Die Stimme klang belegt, bisweilen gar fahl und ließ es bisweilen an Schärfe für den scharfsinnigen Feuergott missen (der er aber natürlich nicht sein durfte). Villazón hatte jedoch einen Riesenspaß mit der Rolle, wie er beim Schlussvorhang zeigte, bei dem ihn einige Buh-Rufer nicht zu stören schienen. Sympathisch.
Robert Watson fiel etwas gegen die anderen Sänger ab. Noch relativ uncharismatisch, hat seine Stimme auch noch nicht die für den Siegmund erforderliche Kraft und Ausdrucksstärke. Mika Kares hat mit dem Hunding und vor allem dem Hagen an einem großen Haus einen enormen Schritt nach vorn gemacht. Er ist kein schwarzer Bass, aber ein klangvoller und eloquenter Sängerdarsteller, der sicher eine gute Karriere vor sich haben wird. Er verlieh auch dem Fasolt ungewöhnliches vokales Format. Stephan Rügamer gab einen bürokratischen aber differenziert agierenden Mime mit einem guten Charaktertenor. Peter Rose als Fafner stand ihm stimmlich kaum nach. Anna Kissjudit war eine exzellente Erda mit klangvollem Mezzo. Claudia Mahnke sang eine gute „Rheingold“-Fricka. Im Siegfried wirkte die Stimme etwas belegt. Violeta Urmana sang mit relativ wenig Aktivität eine gute Waltraute-Erzählung. Lauri Vasar war ein agiler Donner und ein zwar wohlklingender, aber stimmlich etwas zu leichter Gunther, was gerade dieser Rolle durchaus entgegenkam. Mandy Fredrich war eine stimmlich leichte Gutrune, ähnlich wie Siyabonga Maqungo als Froh.
Die drei Rheintöchter, Evelin Novak als Woglinde, Natalia Skrycka als Wellgunde und Anna Lapovskaja waren bestens besetzt, ebenso wie die Nornen Noa Beinart (Erste), Kristina Stanek (Zweite) und Anna Samuil (Dritte). Sie wuselten immer wieder über die Bühne als Statistinnen und sind am Ende dem Tode nahe, was aber keinen Sinn macht, wieder mal…. Victoria Randem sang einen glockenreinen Waldvogel und bezirzte Siegfried mit dem Spielzeugvogel. Also hatte er sich doch nicht ganz von der Kindheit getrennt?! Clara Nadeshdin als Gerhilde, Anna Samuil als Ortlinde, Natalia Skrycka als Grimgerde, Christiane Kohl als Helmwige, Michal Doron als Waltraute, Alexandra Ionis als Schwerteilte, Anna Lapovskaja als Grimgerde und Karis Tucker als Roßweiße gaben ein gutes Walküren-Oktett, nur ein regiebedingt phlegmatisches.
Christian Thielemann, der ja immerhin in diesen Zyklus eingesprungen war und noch den dritten dirigieren wird, wurde nach dem „Rheingold“ mit triumphalem Applaus empfangen, obwohl musikalisch bei aller Qualität der auch an diesem Abend hochmotivierten Staatskapelle Berlin sich für die kommenden Abende noch Luft nach oben andeutete. Der Vorabend dauerte immerhin über zwei Stunden und 40 Minuten, und es wackelte einiges ganz zu Beginn. Thielemann und die Staatskapelle fanden schon in der „Walküre“ zu einem zauberhaften Zusammenspiel, welches sich bis zum Schluss fortsetzte. Dabei ließ der Maestro in seiner bewährten Form den Musikern viel Freiheit zum Ausgestalten ihrer Parts. Andererseits behielt er aber stets die musikdramatischen Zügel fest in der Hand. Das brachte eine gute musikalische Symbiose im Graben. Man hörte in den kontemplativen Momenten, und nicht nur da, viele kunstvolle Details, die man sonst nicht ohne Weiteres gewahrt. Bisweilen kam es zu einem musikalisch facettenreichen Erzählstil bei einer faszinierenden Detailverliebheit.
Auch der von Martin Wright einstudierten Staatsopernchor wurde von Thielemann musikalisch sehr gut eingebunden und sang auch stimmstark und transparent. Man hatte den Eindruck, dass sich die Staatskapelle und Maestro Thielemann an diesen vier Abenden bestens zusammengefunden haben. Daraus könnte sich mehr entwickeln. Fraglich ist, wie diese Inszenierung wegkommt, wenn einmal nicht Thielemann am Pult und ein solches Sängerensemble auf der Bühne stehen sollte. Das leading team kam erst nach einer gefühlten Ewigkeit heraus und erntete einen wahren Buhorkan des Publikums im vollbesetzten Haus. Er hatte ähnliche Dimensionen wie jener für Valentin Schwarz und seine Neuinszenierung in Bayreuth Anfang August. Zu viele Ungereimtheiten, zu häufige Negierungen zentraler Elemente der „Ring“-Geschichte und -Dramaturgie und somit auch ein Konterkarieren nicht nur der Regieanweisungen, aber auch des Librettos von Richard Wagner, waren einem Großteil des kenntnisreichen Publikums einfach zu viel.
Erstaunlich nur, dass der Regisseur, den die Reaktion des Publikums offenbar kaum beeindruckte, nicht den Mut hatte, sich allein vor dem Vorgang dem Publikum zu präsentieren. Oder zumindest allein mit den Kollegen des leading team. Darauf wartete man vergebens… Es mag kein Zufall gewesen sein, dass der Chefdirigent der Wiener Staatsoper, Philippe Jordan, ausgerechnet während der Premiere der Berliner „Ring“-Neuinszenierung, heftige Vorbehalte gegenüber der weiteren Entwicklung des Regietheaters zum Ausdruck gebracht hat, wenn auch aus anderen, teilweise mit seiner Rolle an der Wiener Staatsoper Wien zusammen hängenden Gründen. Wörtlich sagte er: „Dazu muss ich grundsätzlich sagen, dass ich glaube, dass unser Theater, was die Regie betrifft, seit langer Zeit einen fatalen Irrweg eingeschlagen hat. … Das Publikum hat eine richtige Sehnsucht, einfach wieder einmal gutes Theater zu sehen und nicht nur irgendeine Fassung von Irgendjemandem oder Irgendwas. …. Letztendlich führt dieser Weg auf Dauer zu einem unvermeidlichen Scheitern.“ (KURIER Wien, 2.10.2022).
Mit der Norn aus dem Prolog der „Götterdämmerung“ möchte man sogleich zum Wagnerschen Regietheater fragen: „Weisst du, was aus ihm wird?“ Aber fragt auch einmal einer der Verantwortlichen, was das Publikum will oder was es auch schätzen würde?! So machte es einst GMD Ulf Schirmer, als er 2013 die Oper Leipzig nach ihrem großen Niedergang auch als Intendant übernommen hatte und nach einer interessanten Publikums-Befragung auf eine solche Höhe führte, dass das Festival WAGNER 22 vom Juni 2022, das alle 13 Bühnenwerke des Bayreuther Meisters zeigte, für die „Opera Awards“ der Zeitschrift Opera London am 28. November 2022 am Teatro Real in Madrid in der Kategorie „Festivals“ nominiert wurde. Wollte einst nicht auch Richard Wagner mit seinen aus einem inneren Antrieb heraus entstandenen Bühnenwerken ein Publikum erreichen?!
Dr. Klaus Billand
03. November 2022 | Drucken
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