Die Apokalypse der Götter: In der Welt der zerstörten Werte

Xl_58b9f144-433b-45f4-90a7-519e59cb79bf © Hans Jörg Michel

Richard Wagner Die Walküre

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Besuch am 25. Juni 2022 (Premiere 31. Mai 2018)

Die Apokalypse der Götter: In der Welt der zerstörten Werte

Ein Ehekonflikt dominiert die erste Szene des zweiten Aufzugs von Richard Wagners Die Walküre. Wotan und Fricka streiten über die Legitimität der Liebesverbindung des Wälsungenpaares im Akt zuvor, das sich nicht verteidigen kann. Anders in der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs, mit der die Deutsche Oper am Rhein die Wiederaufnahme des Rings der Nibelungen eine Woche nach dem Rheingold fortsetzt.

Siegmund und Sieglinde sind anwesend, als Fricka dem Weltherrscher das Versprechen abtrotzt, dem Schutz Siegmunds zu entraten und ihm den Tod durch Hunding auszuliefern. Die ungewöhnliche Konstellation ist eine der zahllosen dramaturgischen Feinheiten, die Hilsdorfs erste Regieannäherung an Wagners Weltepos zu einem Theaterereignis machen. Schon die Ausstattung Dieter Richters lässt Unkonventionelles erwarten. Das „Innere eines Wohnraums“ mit dem „Stamm einer mächtigen Esche“ bei Wagner, um den ein „Saal mit roh behauenen Wänden gezimmert“ ist, vermittelt auf der Bühne des Düsseldorfer Opernhauses die Anmutung einer vom Zivilschutz eingerichtete Notunterkunft. Zwei zusammengeschobene Tische und allerlei Gestühl bilden das Mobiliar. Der „Eschenstamm“ sieht verkohlt aus; er könnte aus den Trümmern eines abgebrannten Hauses stammen. Was bei Wagner Natur pur ist - wildes Felsengebirge, Gipfel eines Felsenberges -, nimmt in den beiden folgenden Aufzügen die Erscheinung eines Privatsalons der Wotan-Familie an. Ein weißes Tuch verleiht dem Ambiente eine gewisse Noblesse, ein rotes, in die Jahre gekommenes Sofa dem Ganzen einen farblichen Touch.

Die Kostüme von Renate Schmitzer entsprechen dem Look von Leuten, die im Gebirge wohnen oder wie Hunding als Jäger unterwegs sind. Wotan trägt mal eine Sonnenbrille, mal eine Augenklappe. Gut sich zu erinnern, ist doch der Göttervater nicht nur dank seiner Vorgeschichte einäugig. Fricka bevorzugt es, ihre Philippika in einer eleganten schwarzen Abendgarderobe gegen ihren Gemahl zu schleudern. Besonders schwarz das Erscheinungsbild Siegmunds, was dem darstellerisch starken Corby Welch eine tiefe Düsternis gibt, die zwar seiner Biographie, nicht aber seinem Charakter entspricht. Farbtupfer gibt es durch Brünhilde und die weiteren Walküren in Gestalt ihrer rubinroten Kostüme, die bei wechselnder Stimmung durch einen grauen Überhang verdeckt werden.

Hilsdorfs schon im Rheingold beeindruckendes Regiekonzept setzt sich in der Weise fort, wie er den ersten Tag der Tetralogie erzählt hat. In einigen Szenen fällt die von ihm bevorzugte Personenregie noch plastischer und packender als im Vorabend zum Ring aus, in dem es bei Ausnahme des feinfühligen Froh nicht zimperlich zuging. Erfindet schon Wagner Hunding als finsteren Gesellen, so fällt die barsche Art, wie Hilsdorf ihn versteht, noch um einige Grade ruppiger aus. Sieglinde ist einem rigiden Unhold in die Hände gefallen, unfreiwillig, wie sie Siegmund wissen lässt. Mit Waffen wahrt sich der Mann, zieht diesem gegenüber Hunding eine rote Linie. Nachdruck verleiht er ihr mit dem Gewehr, das er nicht allein gegen den Fremden richtet, sondern auch mit abschätzigem Blick gegen Sieglinde. Müht sich Hunding rüde tappernd um einen Kuss, wirkt dieser Anflug von Zärtlichkeit als kaum verhüllte Drohung.

Das Porträt eines gewaltbereiten Macho gelingt so plastisch, zumal Thorsten Grümbel seinen tiefgrundigen Baß adäquat zur Geltung bringt. Die psychologische Tiefe der Geschwister-Begegnung wird von Hilsdorf speziell in den beiden Szenen betont, in denen Siegmunds Blick, am Anfang tastend, dann erkennend, auf Sieglindes Antlitz fällt. Es ist die Beschwörung des Schauens, wie sie auch in Tristan und Isolde eine Schlüsselbedeutung erfährt. Die Fähigkeit des Regisseurs, Text und Bild nahe zueinander zu bringen, schafft auch in seiner Walküre Effekte. Kurz bevor Siegmund sein beseeltes Winterstürme wichen dem Wonnemond intoniert, öffnet sich im Bühnenhintergrund geräuschvoll eine Tür. So scheint wortgenau und auf die Note in Wagners „herrlicher Frühlingsnacht“ der Vollmond „leuchtend“ herein, dringt der „Lenz lachend in den Saal“. Nur ein Ausruhen in dieser Verzückung ist nicht gegeben. Alltag ist bei Hilsdorf nicht fern. Die Vereinigung der beiden Liebenden, die zur Zeugung von Siegfried führt, ereignet sich schlicht auf dem Küchentisch, wozu das Orchester seinen orgiastischen Feueratem beisteuert. Der zweite Aufzug, mit dem Insert Sechs Monate später wie im Kinofilm angekündigt, bietet Sieglinde nun äußerlich erkennbar als schwangere Frau im fortgeschrittenen Monat auf. Er lebt von dem scharfen Kontrast zwischen den drei Frauen, der dirigistischen Fricka, der liebenden Sieglinde und der solidarischen Brünnhilde, den Hilsdorf klug ausspielen lässt. Dagegen werden in Gesten und Körpersprache die Stadien des weiteren Niedergangs Wotans gesetzt. Nachdem er Fricka seinen Eid gegeben, den Wälsung, also Siegmund nicht zu verschonen, wirft er sich in tiefer Erschütterung auf den Boden: Nimm den Eid! Dort minutenlang verharrend, das Abbild eines Gescheiterten. Spektakulär ist der Einstieg in den dritten Aufzug, dessen erste Szene auf dem Gipfel eines Felsenberges spielt und musikalisch mit dem wilden Ritt der Walküren durch die Lüfte beginnt. Der Propellerlärm eines Hubschraubers durchtost das Theater. Nachdem sich der Vorhang gehoben hat, ist auf der Bühne das Wrack des Helikopters zu sehen, dessen Rotor sich über den Protagonisten dreht, völlig sinnlos. Dazu schraubt sich Wagners sinfonische Dramatik aus dem Graben zu einer Kampf- und Schlachtenkaskade auf, die als eines der berühmtesten Orchesterstücke des Komponisten gilt und durch ihre Verwendung in Francis Ford Coppolas Antikriegsfilm Apocalypse Now zu einer Ikone des Hollywoodkinos geworden ist. Die Dämmerung, die Apokalypse, scheint Hilsdorf mit diesem bildmächtigen Ausstattungszitat andeuten zu wollen, ist nicht nur auf Wotan, auf die Götter beschränkt. Sie steht der gesamten Weltordnung bevor, sofern sie allein auf Gold, also das Kapital, und Verträge, den contrat social, aufgebaut ist. Welch ahnungsvolle Prophezeiung im vierten Monat des Krieges von Putin-Russland gegen die Ukraine! Die Skepsis des Regisseurs offenbart sich auch in einem Randaspekt in Wotans Revier. In dem roten Sofa, in dem zuvor die Wälsungen Platz verharrten, hockt eine als Kämpfer ausstaffierte Puppe, möglicherweise der Pilot des demolierten Hubschreibers, in einer verkrampften Stellung. Niemand nimmt Notiz, bis schlussendlich Wotan der Puppe den Hut vom Kopf reißt und damit den Saal verlässt. Zuvor haben sich einige der Walküren junge Männer in kurzen Lederhosen und nacktem Oberkörper gegriffen, um sich offenkundig mit ihnen in Nebenräumen zu verlustieren. Empathie ist in dieser Welt der zerbrochenen Werte alias Verträge ausgelöst. Doch für Gier und Vergnügen ist immer noch Raum.

Hilsdorfs Grundannahme, den Ring in erster Linie als Theater, als Musiktheater zu verstehen, kommt auch der musikalischen Dimension entgegen. Axel Kober wählt in intrinsischer Korrespondenz mit der Regie mit den Düsseldorfer Symphonikern eine aufregende Linie pulsierender chromatischen Fortschreitungen, die in dem sinfonischen Vorspiel zum zweiten Aufzug eine Gletscherwanderung durchmachen. Kobers Walküre-Auffassung erlaubt es den Sängerdarstellern, etwa dem sich in blendender Verfassung präsentierenden Welch, manche Passage zurückhaltender anzugehen, subtiler. Oder dem Wotan von Simon Neal, seine Proklamationen und Dialoge nach und nach zu forcieren, um sich im Finale zu dem überwältigenden Furioso Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind! zu steigern. Es ist das letzte Aufrütteln des Weltherrschers, eben noch der „Traurigste von allen!“, dessen Wunsch immer begreiflicher geworden ist, nur eines noch zu wollen: Das Ende! Und doch sein Abschied von der Macht, vom Feuerzauber der Musik nur halbwegs verdeckt. Wotans „lachende Lust meines Auges“, Brünnhilde, wird dank Linda Watson in den hochdramatischen wie den lyrisch-verinnerlichten Momenten noch einmal an dem Haus zum Ereignis, das sie jahrelang als Anlaufadresse von Wagnerianern mitprofiliert hat. Sarah Ferede ist eine Sieglinde mit Hingabe und stimmlicher Prägnanz. Ihre Textverständlichkeit schwankt, ist aber überdurchschnittlich. Die schon im Rheingold eine Woche zuvor offenbar gewordene Schwäche von Katarzyna Kuncio als Fricka setzt sich leider fort. Es sind Mängel in der Intonation und der Artikulation zu vernehmen. Das unvorteilhafte Dauer-Vibrato erscheint noch dominanter. Mit dem Walkürenruf und dem kunstvollen Sirenengesang zu den flirrenden Streichern und Bläsern zu Beginn des dritten Aufzugs unterstreichen die acht Wotan-Töchter ihr sängerisches Können jeweils individuell wie in der komplexen Formation. Ihr Auftritt macht noch einmal deutlich Im Ring des Nibelungen gibt es keine kleine Rolle zu singen.

Am ersten Tag der NRW-Schulferien ist das Düsseldorfer Haus nur zu etwa zwei Dritteln besetzt. Es braucht nur Sekunden, bis ein beträchtlicher Teil der Besucher von seinen Sitzen explodiert und seine Begeisterung für die Sänger, die Symphoniker und ihren Dirigenten im Stehen bekundet, mit besonderen Akzenten für Watson, Welch und Neal sowie Kober. Die Ring-Begeisterung braucht jetzt einen langen Atem. Mit Siegfried fortgesetzt wird erst in 2023.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Hans Jörg Michel

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