Georg Friedrich Händel Arianna in Creta - Innsbrucker Festwochen Alte Musik 20.8.2024
Garantiert nicht den Faden verloren – Junge Stimmen begeistern in Händels Arianna
Im Rahmen des Nachwuchs-Förderungsprogramms „Barockoper: Jung“ ging bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik die zweite Opernproduktion der aktuellen Saison über die Bühne: Georg Friedrich Händels selten gespielte Oper Arianna in Creta. Und angesichts der mitreißenden musikalischen Darbietung, vermittelt durch eine überzeugende Regieleistung, fragt man sich: Wieso ist dieses wundervolle Werk eigentlich nicht häufiger zu hören?
Vielleicht liegt es an der etwas verworrenen Handlung voller Missverständnisse, unglücklich Verliebter, Eifersucht, Rachegelüsten und ungeklärter Identitäten. Andererseits gehören alle diese Elemente zum herkömmlichen inhaltlichen Motiv-Baukasten des spätbarocken Dramma per musica italienischer Prägung. Erzählt wird eine Geschichte aus der griechischen Mythologie um die Titelheldin Ariadne (auf Italienisch „Arianna“), allerdings nicht deren melancholische Einsamkeit auf der Insel Naxos wie in Richard Strauss‘ Operneinakter.
Händel schildert in seiner Arianna die Vorgeschichte von der Feindschaft zwischen Athen und Kreta und den Menschenopfern für den Minotaurus im dortigen Labyrinth. Arianna wird von König Minos auf Kreta gefangen gehalten. Niemand weiß, dass sie eigentlich seine Tochter ist. Nur Teseo weiß darüber Bescheid: Er kommt nach Kreta, um seine Geliebte Arianna zu befreien. Mit von der Partie sind Ariannas Freundin Carilda und ihr – anfangs noch ungeliebter – Partner Alceste, sowie der kretische General Tauride, der Carilda begehrt. Die verzwickte Ausgangslage verkompliziert sich im Laufe der Oper: Man zweifelt an der gegenseitigen Treue und schreckt auch vor Gewalt nicht zurück. Schließlich finden aber die „richtigen“ Paare Arianna-Teseo und Carilda-Alceste zueinander. Fast nebenbei tötet Teseo den Minotaurus, findet mithilfe des Ariadnefadens wieder aus dem Labyrinth heraus und besiegt im Zweikampf nun auch noch Tauride. Als Teseo am Ende Ariannas wahre Identität enthüllt, steht dem lieto fine nichts mehr im Weg: König Minos führt Arianna und Teseo zusammen. Ein Happy End, zumindest für den Moment – denn laut Mythologie steht den Akteuren ja bereits weiteres Leid bevor.
Händel komponierte seine Arianna 1733 in einer schwierigen Phase. Ein zweites Mal stand er mit einem Opernunternehmen kurz vor dem Aus, denn er hatte sich mit seinem langjährigen Star-Kastraten Senesino überworfen, der kurzerhand zum Konkurrenz-Unternehmen, der Opera of the Nobility, abgewandert war und dabei fast Händels gesamte Truppe mitgenommen hatte. Händel stand also unter Druck, nicht nur ein zündendes Werk für die neue Spielzeit zu schreiben, sondern auch exzellente neue Sängerinnen und Sänger für seine Kompagnie und das von Gesangs-Stars verwöhnte Londoner Publikum zu gewinnen. Ein neues Zugpferd fand er in dem jungen Sopran-Kastraten Giovanni Carestini. Auch bei der Zusammenstellung der übrigen Sängerinnen und Sänger traf Händel offenbar ins Schwarze, denn Arianna wurde im Frühjahr 1734 mindestens 16-Mal gespielt und im Herbst des gleichen Jahres – nun von Händels mittlerweile drittem und letztem Opernunternehmen – erfolgreich wiederaufgenommen.
Bei der Uraufführung der Arianna schöpfte Händel also mit frischem, jungem Gesangspersonal aus dem Vollen. Gleiches gelingt, mit noch jüngeren Sängerinnen und Sängern – allesamt erfolgreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Cesti-Gesangswettbewerbs –, bei den Festwochen in Innsbruck. Die Titelrolle wird von der deutschen Sopranistin Neima Fischer übernommen, u.a. Preisträgerin des Nachwuchspreises beim letztjährigen Cesti-Wettbewerb. Mit ihrem sehr weichen und vibratoarmen Sopran meistert sie sämtliche Herausforderungen der Partie mit Bravour. In virtuosen Arien wie etwa der Schluss-Arie des ersten Aktes Sdegno, amore stellt sie ihre exzellente Koloraturtechnik unter Beweis. Aber auch lyrische Arien weiß sie bewegend zu gestalten, etwa die wunderbaren Moll-Arien So che non è più mio und Se nel bosco resta solo. Fischer schreckt auch nicht davor zurück, Töne in größter Höhe im Pianissimo zu riskieren und – stets perfekt intoniert – fast beiläufig daherkommen zu lassen. Es entstehen so Momente tiefster Innigkeit. Getragen wird ihre stimmliche Darbietung von einem sparsamen und doch sehr eindrucksvollen Schauspiel. Sie wirkt oft zerbrechlich und teils fast distanziert, überzeugt dadurch aber erstaunlicherweise umso mehr in ihrer Rolle als zweifelnde Arianna. Ihr zur Seite steht der junge italienische Countertenor Andrea Gavagnin in der Rolle des Teseo. Carestini, der Teseo der Uraufführung, hatte dafür gesorgt, dass Händel für diese Rolle etliche Arien nachkomponierte. Die vielen resultierenden Arien und Duette sind für Gavagnin kein Problem. Seine Counterstimme klingt weich und gleichermaßen kräftig, die Koloraturen sitzen bestens. In langsamen Passagen intoniert er vereinzelt etwas zu tief, so in der wunderbaren Einschlaf-Arie Sol ristoro di mortali. Sein Schauspiel ist zu Anfang noch etwas steif, lockert sich aber im Laufe der Aufführung deutlich auf.
Das zweite, „niedere“ Paar bilden Carilda (Ester Ferraro) und Alceste (Josipa Bilić). Ferraro spielt ihre Rolle insgesamt sehr ernst – immerhin soll sie als erste dem Minotaurus geopfert werden – und würdevoll. Bewundernswert durchlebt sie ihre Arie Quel cor che adora. Ihr schon zum Alt tendierender Mezzosopran klingt sehr warm und beeindruckt insbesondere in der Tiefe, beispielsweise in der positiv gestimmten Arie Un tenero pensiero im dritten Akt. Ihr männlicher Partner Alceste ist interessanterweise eine Sopranpartie mit deutlich höher liegender Tessitur. Josipa Bilić übernimmt diese Hosenrolle sehr überzeugend und mit ausgezeichneter Bühnenpräsenz. Sie ist die spielfreudigste Akteurin des Abends und vermag ihrer Rolle mit vielen Gesten und geschickter Mimik Tiefe zu verleihen. Ihre Sopranstimme lässt sie dabei in makelloser Klarheit erstrahlen und stellt sie doch gleichzeitig auch in den Dienst der Handlung. Unter die Haut gehen etwa ihre improvisierten Vorhalte in der Arie Talor d’oscuro velo, ebenso wie ihre Interpretation der Arie Son qual stanco pellegrino. Im B-Teil dieser bemerkenswerten Moll-Arie mit obligatem Solo-Cello schlitzt sie bzw. Alceste den beiden Wachen auf der Bühne die Kehlen auf, um mit Carilda fliehen zu können. Zu der melancholisch-traurigen Musik entsteht so ein plötzlicher, merkwürdiger Kontrast, der die gezeigte Brutalität aber umso mehr unter die Haut gehen lässt – ein genialer Regieeinfall! Zusammengehalten wird der musikalische Bogen durch Bilićs eindrucksvolle Gestaltung. Am Ende der Arie herrscht absolute Stille im Zuschauerraum.
Die Rolle des brutalen kretischen Generals Tauride übernimmt die französische Altistin Mathilde Ortscheidt, Siegerin des Cesti-Wettbewerbs 2023. Neben ihrer fabelhaften technischen Virtuosität besticht v.a. ihr satter Stimmklang im tiefen Register, den sie auch zur Unterstreichung der Affekte zu nutzen weiß. Wenn etwa in der Zorn-Arie Qual leon che fere irato vom wütenden Löwen die Rede ist, hört man dessen Gebrüll in der Musik nicht nur dank Händels gekonnter Instrumentation in den eingesetzten Hörnern, sondern auch dank der Tiefe von Ortscheidts Altstimme. Auch mit ihrem Spiel gelingt es ihr, den düsteren Charakter ihrer Rolle zu ergründen. So überwacht ihr Tauride zu Beginn der Oper die Durchsuchung der Gepäckstücke, die den Gefangenen abgenommen wurden, und vergreift sich skrupellos am dabei gefundenen Bargeld. Die einzige Rolle mit einer „natürlichen“ Männerstimme – die Rolle des kretischen Königs Minos – übernimmt der italienische Bariton Giacomo Nanni. Er glänzt mit packender Bühnenpräsenz und schafft es trotz seiner wenigen und eher kurzen Auftritte, der Rolle des Minos eine bedrohlich-diabolische und gleichzeitig ironische Note zu verleihen. Seine einzige Arie Se ti condanno singt er mit transparenter und angenehm kerniger Stimme, die gut zum Affekt dieser Tyrannen-Arie passt. Es ist direkt schade, dass seine Rolle so klein ist!
Getragen werden die Sängerinnen und Sänger von dem engagiert aufspielenden Barockorchester: Jung unter dem Dirigat von Angelo Michele Errico. Vom Cembalo aus leitet er die nur 17 Musiker sicher durch die anspruchsvolle Partitur. Wenn auch die Wahl der Tempi vereinzelt überrascht – manche Arien erklingen relativ gemächlich – und nicht alle interpretatorischen Rubati und Ritardandi überzeugen, klappt die Koordination aber immer bestens. Sehr differenziert sind auch die Rezitative gestaltet: Der kluge Einsatz der begleitenden Continuo-Instrumente – bis hin zu einem einzelnen, zerbrechlichen Ton des Cellos – passt stets sehr gut in die Dramaturgie der Handlung.
Die Inszenierung bewegt sich zwischen der Abbildung der Regieanweisungen im Libretto und dezenter Modernisierung. Regisseur Stephen Taylor verlegt die Handlung in die kargen Gemäuer eines Gefängnisses (Bühne und Licht: Christian Pinaud). Wir befinden uns offenbar in einem autoritär geführten Überwachungsstaat, einer Diktatur, wie die anonymen Uniformen von Tauride und Minos vermuten lassen (Kostüme: Nathalie Prats) – möglicherweise im faschistischen Italien der 1920er-/30er-Jahre oder in Griechenland während der Militärdiktatur. Klaustrophobie macht sich breit. Hier werden die Akteure gefangen gehalten. Nachlässig bedeckte, blutbeschmierte Leichen lassen Folter vermuten. In diesem plausibel gestalteten Setting bleibt die insgesamt gelungene Inszenierung weitgehend unauffällig, konventionell und konzentriert sich auf eine lockere Personenregie, die auch von der Spielfreude der jeweiligen Sängerinnen und Sänger abhängt. Die Chance, den Kampf mit dem Minotaurus in das 20. Jahrhundert zu adaptieren, bleibt jedoch ungenutzt: Der Minotaurus erscheint als Statist mit Stierkopf – was für einiges Gelächter im Publikum sorgt – und wird ganz gemäß Libretto im Zweikampf niedergestreckt. Allerdings beweist Regisseur Taylor auch durchaus immer wieder Sinn für Humor, beispielsweise wenn im Schlussbild dem Minotaurus-Bezwinger Teseo ein Stierkampf-Chaquetilla übergezogen wird und er kurz so aussieht wie Escamillo. Oder wenn im gleichen Moment auch der – vermeintlich tödlich – geschlagene Tauride plötzlich mit griesgrämigem Blick und Arm in der Binde vor die Kulisse tritt, um in den freudigen Schluss-Chor einzustimmen. Er muss mitsingen, ob er will oder nicht – Händel fordert es in der Partitur!
Mit diesem zweifelhaften Happy End im ironischen Schlussbild entlässt Taylor das wohlwollende Publikum, das sich sehr begeistert zeigt und allen Sängerinnen und Sängern jubelnd applaudiert. Ein Abend, der Lust gemacht hat: Auf Händels Arianna, die man hoffentlich häufiger zu hören und zu sehen bekommt, und auf den Gesangsnachwuchs, dem erfolgreiche und spannende Karrieren in den nächsten Jahren zu wünschen sind!
Stefan Fuchs
23. August 2024 | Drucken
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