Anlässlich der Geburt von Hector Berlioz (1803-1869) vor 220 Jahren und des Ablebens von Richard Wagner (1813-1883) vor 140 Jahren führte das prachtvolle Theatro Municipal von Rio de Janeiro unter der Leitung des Künstlerischen Direktors und Tenors Eric Herrero ein „Grande Encontro – Homenagem a Berlioz e Wagner“ durch, also ein großes Treffen zur Ehrung von Hector Berlioz und Richard Wagner. Herrero hat das Amt im Februar 2022 übernommen, ist Sieger des VII. Brasilianischen Maria Callas-Wettbewerbs, hat auf allen bedeutenden Bühnen des Landes gesungen und ist auch Mitglied des Rates für Kulturpolitik des Bundesstaates Rio de Janeiro.
Dieses „Große Treffen“ wurde nicht nur musikthematisch ein großes, sondern auch zahlenmäßig: An diesem und dem Folgeabend vereinte man nämlich zwei der traditionellsten und bedeutendsten symphonischen Institutionen des Landes auf der Bühne des Theatro Municipal, das Orquestra Sinfônica do Theatro Municipal – OSTM und das Orquestra Sinfônica Brasileira – OSB, die zudem mit einer der herausragenden brasilianischen Opernsängerinnen verbunden sind, Eliane Coelho, die „Isoldes Liebestod“ sang. Felipe Prazeres, der Chefdirigent des OSTM, stand am Pult beider Orchester, die mit einem enormen Streichersatz aufwarteten, allein zehn Kontrabässe und neun Celli, sowie einem entsprechend großen Holz- und Blechbläser- sowie Schlagwerkensemble. Es war ein wahrlich gigantisches Unternehmen vor zudem gut besetztem Haus!
Im ersten Teil spielte man also Hector Berlioz und begann mit dem „Römischen Karneval“ op. 9 Ouverture für Orchester. Das Stück, welches auf die Begegnung von Berlioz mit Felix Mendelssohn in Rom zurückgeht, sprüht nur so von den Eindrücken, die beide bei dieser Reise hatten, wie das Pferderennen auf dem Corso oder die wilde Ausgelassenheit des Volks in Saltarello mit seinem Tanz. Felipe Prazeres vermochte mit beiden Orchestern diese intensive Atmosphäre musikalisch eindrucksvoll zu vermitteln.
Daraufhin folgte der „Ungarische Marsch“ op. 24 „Rakoczy Marsch“ aus „Fausts Verdammnis“. Hier konnte Prazeres bei großer Transparenz der einzelnen Gruppen die Rhythmik des Marsches detailliert herausarbeiten und ein intensives Finale gestalten. Der „Walzer“ aus der „Symphonie fantastique“ op. 14-2. Un bal“ bildete den Abschluss des Berlioz-Teils vor der Pause. Hier konnten sich besonders die Streicher auszeichnen mit einem beeindruckenden Maß an Harmonie und Koordination. Mit großer Dynamik bei gleichzeitig guter Transparenz gelang das Crescendo im Finale. Bei allen drei Stücken von Hector Berlioz bewiesen beide Orchester ein hohes Maß an Kenntnis der Feinheiten der jeweiligen Partitur, was Felipe Prazeres mit exaktem Schlag aufs Beste musikalisch zu realisieren wusste.
Nach der Pause ging es nach einer kurzen Einführung aus dem Off weiter mit der Ouverture zu Richard Wagners romantischer Oper „Tannhäuser“, und Felipe Prazeres betonte sofort die romantische Couleur der Musik des Bayreuther Meisters. Er wählte breite Tempi, kam dann zur Mitte hin aber zu der angesagten Steigerung und ließ sodann mit beiden Orchestern viele Facetten mit starker Akzentuierung erklingen - ein sehr guter Beginn des Wagner-Teils.
Dem dann nach einer weiteren kurzen Einführung der „Tristan“-Thematik aus dem Off zunächst das Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ und unmittelbar darauf Isoldes Liebestod folgten. Bemerkenswert harmonisch entwickelte Prazeres das Vorspiel und führte es sodann zu einer immer intensiver werdenden Dynamik, bis umso eindrucksvoller der Moment der Ruhe im Finale zurückkehrte – eine sehr gefühlvolle Interpretation! Dann trat Eliane Coelho als Isolde mit „Isoldes Liebestod“ auf, nachdem sie schon einen großen Auftrittsaplaus gleich bei ihrem Erscheinen mit dem Dirigenten bekommen hatte. Sie ist mittlerweile so etwas wie der Inbegriff der auch international bekannten brasilianischen Operngesangskunst, die sie über viele Jahre zu großer Reife entwickelt hat, was ihr unter anderem ermöglichte, in São Paulo die Brünnhilde und in Manaus die Isolde zu singen. Auch in Wien trat sie mehrmals auf und sang zum Tode von Marcel Prawy auf der Bühne der Wiener Staatsoper Mariettas Lied zur Laute aus Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“. Natürlich ist in ihrem Alter die Stimme nicht mehr in der früheren Form, aber sie sang die Isolde an diesem Abend mit durchaus guter und charaktervoller Sopranstimme sowie großer Emphase. Coelhos ausgeprägtes Charisma als langverdiente und international bekannte Sängerin auf hohem Niveau ist heute ganz sicher einer der wichtigsten Aspekte ihrer gesanglichen Interpretation und damit auch von der Kritik, abgesehen von rein vokaltechnischen Überlegungen, zu würdigen.
Das Publikum tat das genauso. Es sprang fast komplett von den Sitzen auf und spendete Eliane Coelho standing ovations mit vielfachen Brava-Rufen. Nach einer ersten Zugabe mit dem beschwingt gespielten Vorspiel zu 3. Akt von „Lohengrin“ holte Felipe Prazeres sie nach vorheriger gestischer Publikumsbefragung nochmal aus dem Kamarin. Sie sang tatsächlich „Dich teure Halle“ aus dem 2. Akt „Tannhäuser“, was stimmlich nicht ganz den Eindruck ihrer Isolde hinterließ. Aber auch hier war das Publikum wieder aus dem Häuschen. Eliane Coelhos Auftritt machte diesen Abend zu einem ganz besonderen! Ein Phänomen verdient an diesem Abend im Theatro Municipal ganz besondere Erwähnung. Weit über die Hälfte des Publikums war für die aus Europa bekannten Verhältnisse für ein Opernpublikum mit unter 35 Jahren sehr jung. Man muss sich fragen, wie das Theatro Municipal es schafft, zu einem zudem so unkonventionellen Programm so viele junge Leute ins Haus zu bekommen, auch wenn die Parkettpreise nur bei etwa 12 Euro liegen. Auch dann muss ja erst mal das Interesse zum Konzertbesuch vorhanden sein. Nach den Ursachen wird mit Eric Herrero geforscht.
Dr. Klaus Billand
01. Juni 2023 | Drucken
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