Grandioser Auftakt – Zweites Bayreuth Baroque Opera Festival startet mit Carlo il Calvo
Als durch und durch geglückt darf die Wiederaufnahme von Nicola Porporas Oper Carlo il Calvo gelten, mit der am 1. September die zweite Saison von Bayreuth Baroque eröffnet wurde. Festivalleiter Max Emanuel Cencic gelang es, die starträchtige Originalbesetzung dieser im letzten Jahr so umjubelten Produktion erneut nach Oberfranken zu holen.
„Karl der Kahle“ – so der deutsche Titel dieser 1738 in Rom uraufgeführten Oper – ist ein emotionsgeladenes Familiendrama in typischer Opera-seria-Manier: Der fränkische Kaiser Ludwig der Fromme ist gestorben. Neuer Kaiser soll sein minderjähriger Sohn Karl/Carlo werden, doch Lothar I./Lottario, Ludwigs Sohn aus erster Ehe, beansprucht den Kaiserthron für sich. Um dieses Ziel zu erreichen ist Lottario jedes Mittel Recht – Intrigen, verleumderische Gerüchte, Erpressung, selbst vor Entführung, versuchtem Kindsmord und Krieg schreckt er nicht zurück.
Regisseur Max Emanuel Cencic verlegt die Handlung ins Kuba der 1920er-Jahre und reichert sie mit zahlreichen über das Libretto hinausgehenden Facetten an. So wird Carlo als schreckhaftes und an Kinderlähmung erkranktes Kind dargestellt, das für die Streitereien in seiner mafiösen Familie viel zu sensibel ist, aber von seiner Mutter Giuditta vehement zum Herrscher gepuscht wird. Unweigerlich drängt sich die Assoziation mit Hanno Buddenbrook auf und man fragt sich: Wozu der ganze Aufstand? Umso erstaunlicher am Ende der Oper die Szene, als Carlos Beinschienen plötzlich abgenommen werden – man denkt an Forrest Gump – und er, offenbar völlig gesund, ohne fremde Hilfe laufen kann!
Schauspielerisch geben die Sängerinnen und Sänger alles, hin und wieder auch etwas zu viel, was gut passt. Wenn etwa Giuditta um ihren Sohn weint, trägt sie bewusst dick auf und verleiht der Szene dadurch einen Hauch Telenovela-Charakter. Die Personenregie ist locker und äußerst bewegt gestaltet. Cencic überwindet auf überzeugende Weise den wiederholten Handlungsstillstand während der Arien durch Aktionen der Protagonisten und der Statisten im Hintergrund. (Dass es sich bei letzteren teilweise um historische Mitglieder der Kaiserfamilie handelt, verrät zwar das Programmheft, ist jedoch für das Verständnis der Handlung irrelevant.) Ein besonderes Highlight: Zu Gildippes letzter Arie Come nave in mezzo all’onde wird u.a. gemeinschaftlich Charleston getanzt.
Und wie klingt’s? Porpora ist nicht Händel, und dass sich seine Musik stilistisch von der seines deutschen Zeitgenossen unterscheidet, wird gleich in der Ouvertüre deutlich. Im Programmheft, das erfreulich umfangreich auf die Musik eingeht, wird Porporas Stil mit dem Händels in Beziehung gesetzt. Das ist nachvollziehbar, schließlich ist Händel der heute am meisten gespielte Opernkomponist des Spätbarock. Ob man Porpora durch diesen Vergleich aber gerecht wird, sei dahingestellt. Seine Musik ist weniger komplex und kontrapunktisch als Händels, sondern viel homophoner angelegt und auf die Oberstimme ausgerichtet, dabei meist flott und durchaus virtuos. Dur ist das klar dominierende Tongeschlecht. Insofern wäre es wohl angemessen, diese Musik als Vorgriff auf die Frühklassik zu verstehen.
Die immensen sängerischen Herausforderungen der Partitur bewältigt das Ensemble indes exzellent. Besonderer Star des Abends ist Julia Lezhneva als Gildippe, die sich scheinbar mühelos und gleichzeitig mit großer Perfektion durch ihre Partie bewegt. Ihre raschen Koloraturen und eine klare Höhe beeindrucken ebenso wie ihr inniges Piano, das sie v.a. in der Arie Se nell’ amico besonders anrührend einzusetzen weiß. Ihr männlicher Partner ist Franco Fagioli in der Rolle des Adalgiso. Fagioli ist einer von gleich drei – stimmlich sehr unterschiedlichen – Countertenören in dieser Produktion. Man muss kein Fan von Fagiolis äußerst Vibrato-lastiger Stimmfarbe sein, doch es fällt schwer, diesen Sänger nicht zu bewundern. Seine kräftige Stimme trägt und füllt problemlos den Raum, kann aber im Duett Dimmi, che m’ami, o cara auch intim mit Lezhnevas Sopran verschmelzen. Dunkel und angenehm warm, aber auch flexibel ist andererseits der Counter von Max Emanuel Cencic, der seine Rolle als Adalgisos herrschsüchtiger Vater Lottario auch darstellerisch sehr nuancenreich gestaltet. Bruno de Sá wiederum besitzt einen glockenhellen Sopran, den er ohne jede Anstrengung bis in höchste Höhen treiben kann – sein aus dem Piano crescendierendes d3 in der Arie Sai, che fedel io sono sorgt kurz für einen Gänsehaut-Moment im Theater. Gerne hätte man sich mehr von diesem Sänger gewünscht, doch seine Rolle als Berardo ist eher klein. Die Rolle der resolut auftretenden Giuditta übernimmt Suzanne Jerosme. Ihr Sopran klingt dramatischer als der ihrer Bühnen-Tochter Lezhneva, beeindruckt aber durch Agilität in den furiosen Arien. Nian Wang bereichert die Palette der Ensemble-Stimmfarben um einen warmen, eher dunklen Mezzosopran. Ihr gelingt es stimmlich wie schauspielerisch überzeugend, der kleinen (und dramaturgisch letztendlich überflüssigen) Rolle der Eduige einen eigenen Charakter zu verleihen. Als einzige tiefere Männerstimme steht der Tenor Petr Nekoranec der restlichen Sängerriege gegenüber. Er ist der Intrigant Asprando, der in Cencics Inszenierung obendrein ein homoerotisches Verhältnis mit Lottario unterhält. Nekoranecs Tenor ist weich und beweglich und passt mit seinem hellen und doch nie scharfen Timbre, das er auch in der Höhe nie verliert – die Partie reicht notiert bis zum b1 –, hervorragend in den Gesamtklang des Ensembles.
Getragen werden die Sängerinnen und Sänger vom griechischen Orchester Armonia Atenea, das sich auf historisch informierte Aufführungspraxis spezialisiert hat. Dirigent George Petrou treibt das 27-köpfige Orchester mit großen, schwungvollen Gesten zu einem mitreißenden Spiel an. Dabei bestechen insbesondere die Streicher durch die Präzision in den Allegro-Passagen und durch ihren warmen, vibratoarmen Klang. Viel Probenarbeit wurde offenbar auch auf die Gestaltung der umfangreichen Secco-Rezitative verwandt: Die Continuo-Instrumente werden je nach Klangfarbe innerhalb der Dialoge geschickt eingesetzt und wechselnde Affekte kommen durch üppige Verzierungen eindrucksvoll zur Geltung. Einzig die Blechbläser sprechen nicht immer gut an.
Am Schluss bleibt der Eindruck einer rundum gelungenen Opernaufführung. Das Publikum dankt mit stehenden Ovationen, während hinter geschlossenem Vorhang die Mitwirkenden deutlich hörbar jubeln – verdientermaßen! Gerade das macht dieses Festival so sympathisch, und man darf auf viele weitere Barockopern – vielleicht demnächst auch aus dem französischen oder deutschen Repertoire, hoffen. Das kürzlich renovierte Markgräfliche Opernhaus bietet als architektonisches Juwel schließlich die ideale Spielstätte fur das Musiktheater dieser Epoche.
Stefan Fuchs
03. September 2021 | Drucken
Kommentare