John Neumeier schrieb Ballettgeschichte. Grund genug dieses Ausnahmetalent und Leitfigur des Tanztheaters zu feiern. Der 1942 in Milwaukee geborene Amerikaner hat in Deutschland seine künstlerische Heimat gefunden. Sein erstes Tänzerengagement nahm er mit einundzwanzig Jahren in Stuttgart an. Erste Choreografien entstanden hier bevor er Ballettdirektor in Frankfurt wurde. 1973 kam er nach Hamburg und wirkt dort seit 1996 als Ballettintendant und reiht sich unter die ganz Großen ein neben Petipa, Balanchine oder Cranko. Auch das bayerische Staatsballett hat immer wieder eng mit John Neumeier gearbeitet und viele seiner Werke einstudiert. Seine dramaturgischen epischen Choreografien sind bahnbrechend und Meilensteine in der Entwicklung des Tanzes. Er schuf zahlreiche abendfüllende Handlungsballette unterschiedlichster Gattung, insbesondere seine Inspirationen zu symphonischen Werken und Passionen von Johann Sebastian Bach eröffneten dem Tanzrepertoire neue Dimensionen. Als Auftragswerk des Staatsballett in Stuttgart entstand 1978 die Kameliendame nach dem Roman von Alexandre Dumas, bereits als Vorlage für La Traviata von Giuseppe Verdi zu Weltruhm auf der Bühne gekommen. In der Musik Frederic Chopins fand John Neumeier die passende Untermalung zu seiner gefühlsgeladenen bildhaften Auslegung. Geschickt baut er die Handlung als Rückblick auf und reiht mühelos einzelne Begebenheiten der Liebe zwischen der Kurtisane Marguerite Gautier und dem Edelmann Armand Duval. Genial begleitet Jürgen Rose als Bühnenbildner den Erzählstil von John Neumeier. Am Beginn steht die Versteigerung der letzten Besitztümer der Kurtisane. Armand beginnt sich reuevoll zu erinnern, das Kennenlernen am großen Fest, die Einladung nach Hause und erste Zärtlichkeiten. Eine lebenslange Leidenschaft beginnt die tragisch endet. Marguerite bringt das fatale Opfer und verlässt Armand aus Liebe nachdem dessen Vater die Mésalliance angeklagt hat. Doch die Beiden begegnen sich immer wieder und hier offenbart sich das handwerkliche Können John Neumeier. Die Ausdruckskraft der tänzerischen Bewegungen, das Ineinander und Miteinander körperlicher Berührungen zieht den Betrachter in den Bann. Nahezu schwebend wirbeln, rollen und vereinen sich Anna Laudere als Marguerite und Edvin Revazov als Armand. Beide sind erste Solisten des Hamburger Balletts und springen für die erkrankten Solisten des bayerischen Staatsballetts ein. Weich, ehrfurchtsvoll und grazil sind ihre perfekten Pas de deux. Anmutig zerbrechlich die Soli der Todkranken, rebellisch ungezähmt seine Gefühlsausbrüche und Eifersucht. Beide Tänzer überzeugen in ihrer Ausdruckskraft und Technik. Geschickt verpackt John Neumeier noch ein zweites Paar und deren Los in die Handlung ein - Manon Lescaut und Des Grieux. Auch aus der Oper hinlänglich bekannt ist ihre Liebesgeschichte am Ende tragisch. Kristina Lind und Dmitrii Vyskubenko setzen viele Empfindungen in ihrer barocken Rollengestaltung ein. Als geträumtes Gewissen von Marguerite ist ihre Choreografie ab und an mystisch gestaltet. Das Ensemble des Staatsballetts ist bestens vorbereitet und bringt sich engagiert in die Neueinstudierung ein. Frisch und kraftvoll wirkt diese Tanzregie auch beim 100. mal. Klassische Figurenfolgen wechseln sich mit modernem Ausdruckstanz ab und vereinen sich zu einem harmonischen packendem Gesamteindruck zu dem auch die musikalische Gestaltung gehört. Michael Schmidtsdorff steht am Pult des Staatsorchesters. Dmitry Mayboroda ist der Solist von Chopins zweitem Klavierkonzert, welches den ersten Teil des Abends prägt. Sehr ausgeglichen und auf Schwung ausgelegt ist die Auswahl der Tempi und zurückhaltend die Lautstärke. Es bleibt raumfüllend im Hintergrund und wärmt taktvoll das Gemüt der Zuschauer ohne zu überschütten. Ebenso intim und mit dem Tanz verschmelzend im zweiten Teil das Solospiel auf der Bühne von Simon Murray. Er sitzt unaufdringlich am Flügel während die Gesellschaft die Landluft und das Landleben geniesst- als wären Chopins Walzer und Prelude für dieses Ballett geschrieben. Viel Beifall, Anerkennung und Dank strömt aus dem Zuschauerraum auf die Bühne. Das Ballettbegeisterte Publikum freut sich über die erneute Begegnung mit diesem Meisterwerk.
Dr. Helmut Pitsch
12. Januar 2019 | Drucken
Kommentare