Kopenhagen - Regieteam verwandelt Mozarts frühe Seria in ein phantastisches Theater der Körper.

Xl__46a3545dp © Miklas Szabo

Wolfgang Amadeus Mozart mitridate Besuch am 22. April 2022
(Premiere 8. April 2022)

Königliches Theater Kopenhagen
 

Ein Traumspiel: Regieteam verwandelt Mozarts frühe Seria in ein phantastisches Theater der Körper.

Se viver non degg’io, se tu morir pur dei.Aspasia, die Verlobte des Herrschers von Pontus, und Sifare, Söhn des Königs sowie heimlicher Geliebter der Aspasia, verabreden sich im einzigen Duett in Mozarts Melodram zum gemeinsamen Tod, da ihrer Liebe keine Chance auf Erden beschieden scheint. Die Sopranistinnen Elísabet Einarsdóttir in der Rolle der Aspasia und Emöke Baráth in der des Sifare steigern sich in dem Sechs-Minuten-Stück in eine sängerische Performance, die auch noch das letzte leise Geräusch in Kopenhagens Königlicher Oper zum Verstummen bringt. Es ist aber nicht die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts, an die sich die Besucher der Neuinszenierung in Koproduktion mit der Oper Malmö und dem Skånes Dansteater künftig erinnern werden. Denn bei dieser Opernproduktion im ehrwürdigen Gamle Scene ist alles anders als üblich. Radikal anders.

Was der 14-jährige Mozart in Erfüllung eines Auftrags vom Generalgouverneur der Lombardei, Graf Firmian, zur Eröffnung der Saison 1770/71 am Mailänder Teatro Regio Ducale, dem Vorläufer des Teatro alla Scala, komponiert, wandelt der deutsche Regisseur Ralf Pleger in ein ins Visuelle übersetztes Traumspiel. Es könnte der Gedankenwelt des schwedischen Autors August Strindberg entsprungen sein. Pleger, Kopf eines Kreativteams mit dem Bühnenbildner und Kostümdesigner Alexander Polzin, dem Choreografen Fernando Melo sowie dem Lichtkünstler Olaf Freese, verabschiedet Mozarts Opera seria mit dem Libretto von Vittorio Amedeo Cigna-Santi nach Jean Baptiste Racines Tragödie Mithridate in der italienischen Fassung von Giuseppe Parini in das Archiv.

Pleger, Regisseur von Theater- und Opernaufführungen sowie von Musikfilmen wie The Florence Foster Jenkins Story mit Joyce Di Donato in der Titelrolle, streicht alle Rezitative und vertraut das Drama Polzins Theater der Körper an. Es entsteht eine Imagination des Phantastischen. Die Ersetzung der strengen Formen des Hochbarock durch ein Theater des Artifiziellen, das zwischen Sinn- und Übersinnlichkeit wechselt. Der Einzug des Surrealen in ein Privileg des aristokratischen 18. Jahrhunderts, das selbst immer künstlich und deshalb so extrem erfolgreich ist.

Mozart trifft auf der ersten italienischen Reise mit seinem Vater am 1. Dezember 1770 in Mailand ein. Auf der Grundlage der fertig gestellten Rezitative hat er gerade einmal drei Wochen, die Arien für die Solisten, Figuren der griechisch-römischen Mythologie, zu komponieren, deren Stimmfächer und Charaktere vorher festgelegt sind. Dieser Hintergrund lässt die Besetzung des Mitridate, auch in Kopenhagen, verstehen. Der Herrscher wird von einem Tenor gesungen. Seine familiären, häufig unbotmäßigen Untertanen sind ursprünglich Kastratenstimmen zugeordnet. Hier sind es die Sopranistin Baráth und der Countertenor Morten Grove Frandsen als zweiter Königssohn Farnace, der ebenfalls Aspasia nachstellt. Dazu gesellt sich mit der Prinzessin Aspasia eine Prima donna, die die innerfamiliäre Rivalität erst in Gang setzt. Während Frandsen in der Kopenhagener Aufführung eher unauffällig bleibt, agiert mit Einarsdóttir eine Aspasia vokalen Adels.

Racines und Cigna-Santis Geschichte vom Kampf des Mitridate gegen die Römer, in dem er Schlacht und Leben verliert, verknüpft mit dem Konflikt der Königssöhne mit ihrem Vater, der mit einer Versöhnung seitens des sterbenden Herrschers endet, kommt beim Uraufführungspublikum ungeachtet der sechsstündigen Dauer sehr gut an. Mozart, der das mit 58 Musikern für die damalige Zeit große Orchester vom Cembalo aus leitet, wird mit Viva il Maestrino-Rufen gefeiert. Der Erfolg vom zweiten Weihnachtstag 1770 sichert ihm weitere Aufträge für die Zukunft.

Schon das erste Bild mit und nach der Ouvertüre lässt ahnen, dass es keinen Abend des Konventionellen geben wird. Es herrscht Dunkelheit. Zwei kaum erkennbare Sängerdarsteller winden sich am Boden. Singen von Gefühlen, die man im besten Fall vermuten kann. Nach und nach füllt sich die Bühne mit weiteren Sängern. Sie sind streckenweise nur verzerrt oder begrenzt zu verstehen, als würde mezza voce gesungen. Timothy Augustin, der Sänger der Titelfigur, ist in den ersten beiden Akten überhaupt nicht zu sehen. Der Tenor ist indisponiert angekündigt. Seine Auftrittscavatine aus dem Bühnenhintergrund Se di lauri il crine adorno bleibt unprätentiös.

Aus dem Dunkel kristallisiert sich eine Skulptur heraus, die – gold oder rosa angestrahlt – als Teil eines menschlichen Torsos gedeutet werden kann. Vielleicht auch, je nach Phantasie, als Tor zur Hölle oder erotischer Schlund. Sie dient vereinzelt den Sängern als Tribüne. So der vorzüglichen Baráth für die wundervolle Arie Soffre im mio cor des Sifare. Ihre eigentliche Funktion wird offenbar, als sich in der Skulptur und um sie herum nackte Menschenkörper in fleischfarbenen Trikots zu den Arien und orchestralen Klanglinien Mozarts bewegen. Zumeist langsam, wie in slow motion, und in kunstvollen Wellen, deren Auf und Ab an Vogelschwärme und deren Fähigkeit erinnert, die Richtung ohne Kollisionen untereinander zu ändern.

Es sind Tänzer des Skånes Dansteater, die in der Umsetzung von Melos Choreografie in ihrer Sprache, der Körpersprache, das Drama und die Gefühle der Protagonisten darstellen, auch kommentieren, manchmal bis zum Zustand der Entmaterialisierung steigern. Wie von Geisterhand gesteuert, nähern sie sich in der einen Situation den Sängerdarstellern, um von ihnen in der nächsten wieder zu lassen. Mythische Gestalten im Kleinasien einige Jahrzehnte vor der christlichen Zeitrechnung, die sich in der Macht der Götterwelt wissen, mal umklammernd, dann Raum gebend, wenn auch nur für kurze Zeit. Ein fast schon surrealer Effekt entsteht, als einige der Tänzer auf einer Schräge innerhalb der Skulptur in Zeitlupengeschwindigkeit dem Boden entgegen rutschen. Die Simulation einer Geburt? Oder des Todes, ausgespien nach einem Ringen mit unbekannten Mächten?

Zwei Effekte dieser radikalen Verfremdung sind nicht von der Hand zu weisen. Das Theater der Körper ermüdet relativ rasch, weil sich die durchaus gekonnten Bewegungen letztlich wiederholen. Und mit der Eliminierung der Rezitative und der Entpersönlichung der Figuren des Dramas im Konzept der choreographischen Visualisierung bleibt die Handlung weitgehend unverständlich. Mutmaßlich besonders für jenen Teil des Publikums, dem die ausschließlich dänisch getexteten Übertitel fremd sind.

Als wäre dies auch dem Regisseur bewusst, vollzieht sich mit Beginn des dritten Aufzugs eine durchgreifende Wende. Jetzt agieren die Sänger als mobile Schachfiguren, deren Motorik auf dem Brett des Existenzkampfes vor einem ausgeleuchteten Bühnenhintergrund deutlich zu verfolgen ist. So entsteht eine neue visuelle Kulisse. Die von ihr ausgehende Suggestion fächert sich bis zum finalen und einzigen Chor der Solisten Non si creda al Campidoglio in einer Art Fließbewegung auf. Verstörend wie ein Computerspiel, das sich dem Kampf gegen die Barockoper auf dem Scheitelpunkt ihrer Popularität vorgenommen hat.

Die Komposition des Maestrino atmet geradezu den Einfluss, den die Mannheimer Schule auf den jungen Mozart ausübt. Virtuosität, Harmonik, Akkuratesse in der Grundierung der Kantilenen und das Streben nach perfekter instrumentaler Wiedergabe prägen auch das Spiel von Concerto Copenhagen unter Leitung Lars Ulrik Mortensens. Der auf Alte Musik spezialisierte dänische Cembalist und Dirigent, jüngst Gast der Händel-Festspiele Karlsruhe in Hercules, verlangt den Orchestermusikern jene Dynamik und Elastizität ab, die gerade das gewählte Inszenierungskonzept erfordert. Sarah Aristidou als persische Königstochter Ismene, Geliebte, und Tomas Cervinka als römischer Tribun Marzio, Freund des Farnace, arrondieren den insgesamt guten Gesamteindruck.

Das Publikum feiert alle Mitwirkenden in der typischen dänischen Manier, heftig, aber kurz. Da die Königliche Oper Kopenhagen im Prinzip als Stagione-Theater geführt wird, ist die Mitridate-Serie mit dem letzten April-Termin wie die der Aufführungen in Malmö abgeschlossen. Für das weitere Frühjahr steht Don Giovanni auf dem Spielplan der Metropole Dänemarks. Man darf gespannt sein.

Ralf Siepmann

Foto Copyright MiklasSzabo

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