Neuinszenierung Lear in München Marthaler bringt Wahnsinn auf die Bühne

Xl_lear_c_w_hoesl__5_ © Winfried Hösl

Aribert Reimann Lear

Premiere am 23.5.2021 Bayerische Staatsoper

Besuch am 26.5.2021

Der berühmte Klassiker des alternden Königs Lear und dessen verhängnisvolle Aufteilung seines Erbes unter seinen Töchtern war und ist eine Herausforderung für viele Künstler. Giuseppe Verdi arbeitete ein Leben lang an der Idee seiner Oper Lear und verwarf den Gedanken immer wieder, da er ihm nicht bewältigbar schien. Aribert Reimann wagte das Unternehmen auf Initiative von Dietrich Fischer Dieskau, den er lange Jahre am Klavier begleitete. Die Umsetzung verzögerte sich, bis die Lösung für das Libretto in einer Übersetzung aus 1771 des Shakespeare Klassikers in Prosa gefunden wurde. Dietrich Fischer Dieskau war auch der gefeierte Titelheld in der überaus erfolgreichen Uraufführung dieses Werkes 1978 in München. Nun gibt es zum 85. Geburtstag des Komponisten dort eine Neuinszenierung in der Regie des Schweizer Christoph Marthaler.

Christoph Marthaler ist bekannt für seine außergewöhnliche mitunter gewagte Herangehensweise und Sichtweise literarischer Stoffe. In seiner neuen Arbeit abstrahiert er die Handlung, in seiner Umsetzung spielt sich alles in einem Raum ab, den Anna Viebrock in Anlehnung an das Museum für Naturkunde Basel gestaltet hat. Ein großer Saal ist mit Schaukästen eingerichtet, am linken Bühnenrand befindet sich ein Liftzugang. Von einer Balkoemporen zur linken Seite kann das Geschehen im Raum beobachtet werden. Ebenfalls im Team ist Dorothee Curio, die die Protagonisten ideenreich und farbenprächtig in Kostüme und Kleidung aus den 80iger Jahren des letzten Jahrhunderts steckt und auffällige Frisuren verpasst.  Für Marthaler steht der Machtanspruch und der erbarmungslose Machtkampf im Vordergrund. Symbolhaft sieht er alle Handelnden verblendet und eingekistelt in ihrer Gier und Brutalität.

Die königliche Familie ist in eleganter Alltagskleidung in dem schmucklosen Saal in Schaukästen ausgestellt. Daneben gibt es verschiedene ausgestopfte Jagdtrophäen und sonstige buntgemischte Ausstellungsstücke. Es mutet wie eine Wunderkammer, die von Machthabern bei ihren Beutezügen angelegt wurden. Vor dem Beginn der Partitur erscheint eine Besuchergruppe und wird im Raum herumgeführt. Lear erscheint beim Einsatz der Musik gediegen in grauer Hose und blauen Blazer und der Zuschauer lernt seine Lieblingsbeschäftigung kennen, seine Sammlung toter Insekten. Ein Entomologe mit Passion. Langsam einsteigen den Schaukästen die verschiedenen Mitglieder seiner Familie, allen voran die drei Töchter denen er die verblendete schicksalshafte Frage nach deren Vaterliebe stellt.  Goneril und Regan erschleichen doch Lügen ihr Erbe. Cordelia, die tugendhaft bescheiden die Wahrheit beschreibt wird verstoßen. Sie zieht mit dem dandyhaften König von Frankreich von dannen. Die beiden Schwestern vereinen sich zuerst gegen den Vater, um ihn vom Hof und in Armut zu stoßen. Das Ziel erreicht, richten sie sich gegenseitig im Kampf um die Macht zugrunde. Lear wirkt nicht wirklich wahnsinnig, mehr scheint es seine Überlebensstrategie zu sein. Das vergleichbare Familienschicksal widerfährt dem treuen Freund Lears, dem Grafen von Gloster mit den rivalisierenden Brüdern Edmund und Edgar.

Marthaler zieht die handelnden Personen immer eng zusammen und vereinfacht den Ablauf. Zumeist sind viele der handelnden Personen auf der Bühne, die Szenenwechsel gehen ohne Brüche. Die intensive Personenregie ist packend. Im zweiten Teil der Oper verbergen sich die Darsteller zunächst in Holzkisten, die auf der Bühne hin und her geschoben werden. Die Deckel werden jeweils abgenommen und so förmlich eingezwängt wird die Aussagekraft der Bilder gesteigert und die Handlung verdichtet. Dafür wird auf Blut und Kämpfe verzichtet, die Brutalität wird mit Eleganz und kalter Schönheit vermeintlich zugedeckt. Nach zweieinhalb Stunden und vielen Sterbeszenen kehren die Besucher nochmals in den Ausstellungsraum zurück.

Marthaler stößt hier meisterhaft mit dieser visionär und experimentell anmutenden Inszenierung zum Nachdenken und Grübeln an. Der Wahnsinn wird zur Gradwanderung zwischen Realität und Absurdität. Machtkampf und Machtmißbrauch wird zeitlos in jede Gesellschaft transferiert.

Die Tonsprache Reimanns ist komplex, spektakulär und facettenreich. Intensiv nutzt er die unterschiedliche Klangfarbe und Dramatik der einzelnen Instrumente. Dem Orchester wird viel Wirkungsraum in der Oper gegeben. Vieles wird von der Musik erzählt und muss so auch nicht auf der Bühne vorkommen. Dies hat der Regisseur bewusst genutzt und die Regie sehr gekonnt und intelligent auf die Musik abgestimmt. Streicher, Bläser oder Schlagzeug vermitteln unterschiedliche Stimmungen, in der Wucht des vollen Einsatzes erzeigen sie eine unterschiedliche Dramatik und Monumentalität. Die Überlappung wird zur Steigerung.

Ein wahrer Genuss ist die musikalische Gestaltung und Spitzenbesetzung dieser Neuinszenierung. Christian Gerhaher feiert sein gelungenes Rollendebüt in der Titelrolle. Mit überzeugender kraftvoller Stimmführung zeigt er die bisher nicht gekannten dramatischen Stärken seiner Stimme, die im lyrischen Liedgesang große Erfolge feiert. Seine Charakterdarstellung verinnerlicht das Regiekonzept. Georg Nigl beschäftigt sich intensiv mit zeitgenössischer Musik und ausgefallenen Rollen. Feinsinnig und klar verkörpert er Graf von Gloster, den treuen Begleiter Lears, der selbst den ehrlichen guten Sohn verstoßen hat und dem die Augen qualvoll ausgestochen wurden. Sein Bariton ist geschmeidig in der anspruchsvollen Stimmführung und seine ausgefeilte Rhetorik kommen gut zum Einsatz. Die drei Töchter Lears sind mit Angela Denoke (Goneril), Ausrine Stundyte (Regan) und Hanna-Elisabeth Müller (Cordelia) bestens besetzt. Sie erfüllen alle gesanglichen Anforderungen und punkten mit großem schauspielerischem Talent. Beeindruckend und berührend überzeugend ist Andrew Watts als Edgar, der verstoßene Sohn des Grafen Gloster, der als Narr sich in die Anonymität rettet, seinen blinden Vater treu führt und vor dem Selbstmord bewahrt. Am Ende richtet er seinen intriganten Bruder Edmund im Zweikampf, den Matthias Kink ebenso aussagekräftig spielt. Die Rolle des Hofnarres, der das Geschehen pointiert kommentiert, ab und an auch in besten Shakespeare Englisch, übernimmt Graham Valentine. Seine Rolle wird von der Regie unter Wert einbezogen. In kurzen Hosen, langen Haaren und Schlapphut geistert er meist abkehrt vom Hof schlurfend herum und kann seine stimmlichen und schauspielerischen Potenziale nur eingeschränkt einsetzen.

Sicher und ruhig hält Jukka Pekka Saraste alle Fäden im Orchestergraben zusammen. Er legt mit dem Bayerischen Staatsorchester das sichere Fundament für den Erfolg des Abends. Mit höchster Konzentration und Aufmerksamkeit bewältigen die Musiker diese von ständigen neuen Einsätzen geprägte Partitur. Unbeirrt schlägt der Dirigent den Takt und zeigt die Einsätze an und führt so alle und alles zusammen. Die performative Kraft der Musik Reimanns steigt aus dem Orchestergraben bis in die hintersten Winkel des mit 700 Personen nur zu einem Drittel besetzen Nationaltheaters. Ihrer Wirkung kann sich an dem Abend kein Besucher entziehen.

Das Publikum feiert begeistert die Darsteller und das Werk, welches sicher zu den erfolgreichsten Opernkompositionen des 20 Jahrhunderts gehört.

 

Dr. Helmut Pitsch

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