Antonio Vivaldi Orlando furioso Bayreuth Baroque 11.9.2024
Zauber, Erotik und Eifersucht bis zum Wahnsinn – Orlando furioso in Bayreuth
„Die Handlung erscheint unschlüssig, die Kohärenz ist schwach.“ So kritisch urteilt das eigene Programmheft des diesjährigen Festivals „Bayreuth Baroque“ über Antonio Vivaldis Oper Orlando furioso. Doch die musikalisch beeindruckende und visuell effektvolle Aufführung im prächtigen Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth macht alle dramaturgischen Schwächen dieses Werkes vergessen. Über die Dernière am 11. September 2024 …
Tatsächlich ist die Personenkonstellation sehr interessant, denn anders als im herkömmlichen Dramma per musica des frühen 18. Jahrhunderts dreht sich die Handlung des Orlando furioso nicht um zwei Paare, sondern um zwei Dreiergruppen: Angelica und Medoro sind ein Liebespaar, ebenso Bradamante und Ruggiero. Aus verschiedenen Gründen halten sich alle Protagonisten auf der Insel der Zauberin Alcina auf. Die nymphomane Alcina aber lebt ihre Polygamie auf der Opernbühne offen aus: Obwohl eigentlich mit ihrem Geliebten Astolfo zusammen, findet sie schnell Gefallen an Ruggiero und macht ihn sich mittels Zaubertrank gefügig. Als Bradamante ihren Geliebten nicht kampflos aufgeben will und als Krieger „Aldarico“ verkleidet auftritt, wird sie kurzerhand selbst Ziel von Alcinas Begierde. Und dann ist da natürlich noch der Titelheld, der ruhmreiche Ritter Orlando. Er ist (unerwidert) in Angelica verliebt und auf der Suche nach ihr. Mit seinen heftigen Annäherungsversuchen wirbelt er das Glück des zweiten Paares gehörig durcheinander. Als Angelica und Medoro aber im zweiten Akt heiraten, verliert er völlig den Verstand und wird zum „Rasenden Roland“ – Orlando furioso. Schließlich gelingt es ihm aber – eher durch Zufall –, Alcinas Zauberkraft zu brechen: Ihr Palast verschwindet, die Insel erscheint wüst und öde. Alcina selbst ist plötzlich eine uralte Frau und Orlando plötzlich wieder bei Sinnen. Den ursprünglichen Paaren wünscht er ewiges Liebesglück – das obligatorische lieto fine ist da!
Ja, das wirkt alles etwas absurd, und doch: Im 17. und 18. Jahrhundert war das Sujet vom Orlando furioso, basierend auf Ludovico Ariostos Versepos von 1516, allseits beliebt. So gehen etwa gleich drei Opern Georg Friedrich Händels auf diese Vorlage zurück (Orlando, Ariodante und Alcina). Vivaldi selbst hatte das gleiche Libretto sogar bereits 1714 vertont, ganz am Anfang seiner Opernkarriere. 13 Jahre und über 20 Opern später – wie viele Opern Vivaldi insgesamt komponierte, wissen wir bis heue nicht; laut eigener Aussage sollen es 94 gewesen sein! – wandte er sich auf dem Höhepunkt seiner Opernkarriere dem Stoff erneut zu. Er überarbeitete seine Oper grundlegend und komponierte in diesem Zuge viele Stücke komplett neu.
Formal ist Orlando furioso ein spätbarockes Dramma per musica mit vielen Arien, die durch Secco-Rezitative verbunden werden. Ensemble- und Chornummern gibt es nur wenige, dafür aber etliche Accompagnato-Rezitative, mit denen Vivaldi v.a. in der zweiten Hälfte der Oper dramatische Momente besonders packend gestaltet. Dabei sind die Grenzen zum Arioso fließend, insbesondere bei Orlando: Zur Darstellung seines Wahnsinns im zweiten und dritten Akt lässt Vivaldi immer wieder knappe, arienhafte Passagen – oft auch nur vom Continuo oder dem Unisono des Orchesters gestützt – aus ihm herausbrechen, die dann aber nach kurzer Zeit schon wieder enden. Vollständige Arien werden nicht daraus, fast so, als könne Orlando keine größeren logischen Gedanken mehr formulieren. Doch auch im Gesamteindruck fällt auf: Viele Arien sind erstaunlich kurz – ihnen fehlt das typische DaCapo. Ein Blick ins Manuskript der Oper verrät: Vivaldi hatte zwar die meisten Arien als herkömmliche DaCapo-Arien mit ihrer charakteristischen ABA-Struktur konzipiert, dann aber offenbar selbst oft den B-Teil wieder gestrichen. In Bayreuth hat man sich an seine Striche gehalten, und das Ergebnis überzeugt: Durch die Kürze der Arien bleibt die Handlung kaum stehen. Die Dramaturgie ist stringenter.
Doch das heißt nicht, dass die Herausforderungen an die Sängerinnen und Sänger dadurch maßgeblich abnähmen. Viele Arien sind virtuos und selbst ruhigere, lyrische Nummern oft gespickt mit Koloraturen und anspruchsvollen Intervallsprüngen. Der internationale Gesangs-Cast stellt sich diesen Herausforderungen mit viel Engagement und technischer Souveränität, allen voran der ukrainische Countertenor Yuriy Mynenko in der Titelrolle. Seine Stimme klingt hell und weich und ist doch äußerst wandlungsfähig und durchsetzungsstark. Seine hervorragende Koloraturgeläufigkeit stellt er mehrfach unter Beweis, so beispielsweise in der wilden Tempesta-Arie Sorge l’irato nembo, in der das besungene „wütende Gewitter“ und die „peitschenden Wellen des Meeres“ – natürlich Metaphern für aufgewühlte Seelenzustände – eindrucksvoll spürbar werden. Und auch schauspielerisch gelingt ihm die Rollendarstellung vollkommen: Anfangs noch gewandt und kontrolliert, gleitet sein Orlando – eifersüchtig auf den Nebenbuhler Medoro – Stück für Stück in den Wahnsinn ab und endet im zweiten Akt – inszenatorisch plausibel – in der Zwangsjacke.
Die Rolle der Alcina – die heimliche Hauptrolle der Oper – übernimmt die italienische Mezzosopranistin Giuseppina Bridelli. Im eleganten Abendkleid und mit mondän-riskanter grauer Hochsteckfrisur – ein versteckter Hinweis auf Alcinas tatsächliches hohes Alter – erscheint sie einerseits seltsam unnahbar, füllt ihre interessante Rolle aber auch gleichzeitig mit viel Erotik. Betörend umgarnt sie Orlando in ihrer ersten Arie Alza in quegl’occhi, während ihre Koloraturen freilich perfekt sitzen. Häufig ist ihr Stimmklang düster und abgründig, was hervorragend zu ihrer zwielichtigen Rolle passt, und nicht selten driftet sie in improvisierten Passagen bis ins beeindruckend tiefe Altregister ab. Wie einsam sich Alcina aber tatsächlich fühlt, lässt Bridelli das Publikum an vielen Stellen spüren, etwa, wenn sie in ihrem bewegenden Accompagnato-Rezitativ im dritten Akt um Beistand des Himmels und um Mitleid „mit ihrem betrübten Herzen“ fleht. Vordergründig komisch und gleichzeitig zutiefst berührend ist auch ihre Interpretation der Arie Così potessi anch’io: Während der Hochzeitsfeier von Angelica und Medoro verleiht sie ihrem innersten Sehnen nach aufrichtiger, wirklicher Liebe Ausdruck. Diese bemerkenswerte Arie, changierend zwischen introvertierter Lyrik einerseits und Virtuosität in den triolischen Koloraturen andererseits, singt Bridelli einfach wundervoll. Doch richtig genial wird die Szene durch die Regie: Trotzig hält Alcina die Hochzeitsfeier plötzlich an, drapiert dann im Freeze die Gäste in allerlei peinlichen Positionen – von der Ohrfeige bis zum Champagner-ins-Gesicht-Spritzen – und lässt dann die Zeit per Fingerschnipsen wieder weiterlaufen: Die Hochzeit wurde gecrasht!
Mit allen Wassern gewaschen ist auch Angelica, verkörpert durch Arianna Vendittelli. Ihre facettenreiche Stimme verfügt über eine große Modulationsfähigkeit und ein angenehmes, aber immer stilkonformes Vibrato. Auch für sie stellen Koloraturen kein Problem dar, wie sie schon in ihrer ersten Arie Un raggio di speme demonstriert. Sie weiß ihre Stimme aber auch klug einzusetzen, so beispielsweise im zweiten Akt, wenn sie dem zudringlichen Orlando in ihrer Arie Chiara al pari di lucida stella Liebe vorgaukelt, um ihn in eine Falle zu locken. Ihr zur Seite steht die Altistin Chiara Brunello in der Rolle ihres Liebhabers Medoro. Dessen Hang zur Eifersucht stellt Brunello überzeugend dar. Letztlich obsiegen aber die Hoffnung und das Vertrauen in die Liebe, eingefangen in der Arie Vorrebbe amando il cor, in der Brunello die profunde Tiefe ihrer Altstimme zelebriert.
Den männlichen Part im zweiten Paar übernimmt der britische Countertenor Tim Mead. Seine Rolle als Ruggiero ist zwar verhältnismäßig klein, enthält aber die wohl faszinierendste Arie der ganzen Oper: Nachdem er von Alcinas Zaubertrank gekostet hat, ist er der Zauberin verfallen und singt die wunderschöne Arie Sol da te, mio dolce amore mit obligater Traversflöte (beeindruckend virtuos und toll improvisiert: Marcello Gatti). Ruggieros kämpferische Geliebte Bradamante wird dargestellt von Sonja Runje. Umtriebig setzt sie alles daran, Ruggiero wieder für sich zu gewinnen. Zimperlich ist sie nicht, auch nicht gegenüber Ruggiero selbst. Ihr markanter Alt und ihre exzellente Koloraturgeläufigkeit gehen Runje dabei dienstbar zur Hand: Taci, non ti lagnar – „Schweig, lass das Jammern!“ fährt sie Ruggiero in einer ihrer Arien forsch an. Verhältnismäßig blass bleibt der bolivianische Bass José Coca Loza in der Rolle von Alcinas früherem Liebhaber Astolfo. Er singt schön, sehr präzise und mit warmem Timbre, verfügt aber nicht immer über den nötigen Strahl in der Stimme. Abseits der Rampe klingt er deshalb leider nicht sehr präsent.
Bei all dem Fokus auf die virtuosen Darbietungen der Sängerinnen und Sänger vergisst man fast, was für ein hervorragendes Barockorchester da im Graben sitzt. Und das ist keineswegs negativ gemeint: Il Pomo d’Oro spielen einfach so gut, dass man sich – ganz im Sinne des Komponisten – komplett auf das Geschehen auf der Bühne konzentrieren kann. Nie überdeckt das Orchester die Sänger. Stets findet es die passende Klangfarbe. Und auch bei virtuosem Ritornell-Abschnitten sitzt jede Passage. Nur vereinzelt blitzen besondere aufführungspraktische Effekte auf und rücken das Orchester ins Zentrum der Aufmerksamkeit – und sei es nur durch ein kurzes Geigen-Glissando in einem Accompagnato-Begleitsatz. Angeleitet werden die 23 Musikerinnen und Musiker von Francesco Corti, der selbst am Cembalo sitzt und das Continuo mitgestaltet. Überhaupt das Continuo! Bemerkenswert abwechslungsreich und dramaturgisch klug werden die verschiedenen Continuo-Instrumente kombiniert, um immer neue Klangfarben zu erschaffen und die Affekte auf der Bühne zu unterstützen: Vom wild-rauschenden Einsatz beider Cembali mit Cello-Tremolo über wechselnde Cembali, trockene Akkorde in hoher Lage (beim Beiseite-Sprechen der Protagonisten), Lautenzug, Solo-Theorbe bis hin zum rupfend arpeggierenden Solo-Cello werden hier alle Möglichkeiten ausgereizt. So kommt nie auch nur ein Hauch von Langeweile in den umfangreichen Rezitativen auf. Zum Barockorchester tritt der auf Barock- und Renaissancemusik spezialisierte Coro dell’Accademia del Santo Spirito. Zwar ist die Chorpartie der Oper klein, doch in diesen wenigen Chornummern überzeugen die zwölf Sängerinnen und Sänger durch ihre Intonation und präzise Aussprache.
Die Inszenierung ist ein Import aus dem Teatro Comunale di Ferrara. Die Personenregie ist bewegt, Stillstand selten. Regisseur Marco Bellussi mangelt es auch nicht an erfrischenden und kreativen Einfällen, um die vielen Arien mit dramaturgischem Leben zu erfüllen. Insgesamt setzt Bellussi auf sparsame Requisite. Bestimmendes Element des Bühnenbildes sind Spiegel, die den gesamten Bühnenraum einfassen (Bühne: Matteo Paoletti Franzato). Ansonsten sind die Hintergründe weitgehend schwarz. Darauf werden dynamische Bilder aus der Natur projiziert, so etwa flatternde Vögel, hauptsächlich aber Bäume im Wandel der vier Jahreszeiten – ein versteckter Verweis auf Vivaldis berühmten Violinkonzert-Zyklus. Das ist ebenso simpel wie erstaunlich wirkungsvoll, und umso spannender wird die Bühne, wenn diese Projektionen dann einmal fehlen. Dann wirkt alles leer und seelenlos, wie ein zu dunkel geratener Green Screen. In dieser Scheinwelt bewegen sich die Protagonisten in Kostümen aus verschiedenen Epochen: Verweisen die Kleider Alcinas und der Damen-Statisterie auf die 1920er-Jahre, so sind die Kostüme von Astolfo, Orlando und der Herren-Statisterie eher barock inspiriert. Ruggiero wiederum kommt im roten Renaissance-Wams daher (Kostüme: Elisa Cobello). Das mag willkürlich klingen, fügt sich aber überraschend gut zusammen und geht in dem zeitlosen Bühnenraum auf.
Als nach dem knappen Schluss-Coro der Vorhang fällt, zeigt sich das Publikum begeistert und honoriert die bezaubernde Vorstellung mit stehenden Ovationen. Zufrieden waren offenbar auch die Mitwirkenden selbst – nach dem Schlussapplaus ist ihr verdienter, gemeinsamer Jubel hinter dem Vorhang im Parkett deutlich zu hören.
Stefan Fuchs
13. September 2024 | Drucken
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