Als Selbstlosigkeit noch etwas galt … Stimmakrobatisches Porpora-Revival in Bayreuth

Xl_bayreuth_baroque_2024_ifigenia_act3_4621__clemens_manser_photography © Clemens Manser Photography

Beim Festival „Bayreuth Baroque“ wurde erneut eine Oper von Nicola Antonio Porpora aus dem „Dornröschenschlaf“ erweckt: Zum ersten Mal nach knapp 300 Jahren erklingt im Markgräflichen Opernhaus sein Melodramma Ifigenia in Aulide – ein Fest des virtuosen Gesanges mit überschaubarer Handlung, stimmungsvoll inszeniert.

 

Der Name Nicola Antonio Porpora (1686–1768) war lange Zeit nur eine Randnotiz in den Biografien anderer Komponisten seiner Zeit. So stand er etwa in der Rezeption seit dem 19. Jahrhundert im Schatten seines Rivalen Georg Friedrich Händel. Bis heute gibt es keine Monografie, die sich mit Porporas Leben befasst, obwohl er mit über 40 komponierten Opern zu den Fixsternen der Neapolitanischen Oper gehörte. Außerdem hatte er als gefragter Gesangslehrer geradezu Koryphäen-Status. Doch das, was etwa Joseph Haydn aus seiner Jugendzeit als Korrepetitor in dessen Gesangsunterricht zu berichten weiß, zeichnet ein eher abschreckendes Bild des bereits greisen Porpora: Von jähzornigen und unflätigen Beschimpfungen ist da die Rede, ja sogar von Rippenstößen. Harte Unterrichtsmethoden! – die Haydn wie auch Porporas Gesangszöglinge über sich ergehen ließen, denn sie wussten: Wenn sie einmal seine harte Schule durchlaufen hatten, standen ihnen die Opernbühnen Europas offen. Legendäre Kastraten wie Farinelli und Caffarelli, der Bassist Montagnana – sie alle waren Schüler Porporas. Gleich mehrere Kastraten wählten sich – zu Ehren ihres Lehrmeisters – den Künstlernamen „Porporino“. Doch trotz dieses Ruhms zu Lebzeiten geriet Porpora in Vergessenheit, und erst seit wenigen Jahren beginnen seine Opern zaghaft, auf die Bühnen der Alte-Musik-Festivals zurückzukehren. Bei „Bayreuth Baroque“ ist Porpora aber seit einiger Zeit kein Unbekannter mehr: Mit Ifigenia in Aulide präsentiert das Festival bereits zum dritten Mal eine Oper aus seiner Feder, und nach Carlo il Calvo (2020) ist es obendrein die zweite „Neuausgrabung“ einer Porpora-Oper, die vermutlich erstmals seit dem 18. Jahrhundert zu hören ist.

 

Ifigenia in Aulide entstand 1735 für die Opera of the Nobility in London, jenes Opernunternehmen, das eine Spielzeit zuvor in Konkurrenz zu Händels New Academy of Music gegründet worden war. Porpora standen in London etliche der besten Gesangs-Stars seiner Zeit zur Verfügung – nicht wenige waren aus Händels Truppe zu ihm abgewandert –, und er konnte künstlerisch aus dem Vollen schöpfen. Seine Oper ist im Grunde eine Aneinanderreihung anspruchsvollster Bravour-Arien, die Porpora den Sängerinnen und Sängern nach deren individuellen Stärken auf den Leib schrieb. Selbst langsame, kantable Arien sind gespickt mit Koloraturen, und das Ergebnis – ein Feuerwerk gesanglicher Virtuosität – verfehlt auch heutzutage seine Wirkung auf das Publikum nicht.

 

Die Handlung ist überraschend simpel: Agamemnon hat auf Aulis einen heiligen Hirsch der Göttin Diana erlegt und die Göttin verspottet. Aus Zorn lässt Diana Windstille herrschen, sodass die Griechen, die eigentlich auf dem Weg in den Trojanischen Krieg sind, nicht weitersegeln können. Um die Göttin zu besänftigen, soll Agamemnons Tochter Iphigenie geopfert werden. Sie wird mit ihrer Mutter Klytämnestra auf die Insel gerufen und trifft hier zufällig auf Achilles. Die beiden verlieben sich, und als Achilles von dem geplanten Menschenopfer erfährt, kann er das nicht akzeptieren. Als sein Plan, Iphigenie von der Insel zu schmuggeln, misslingt, erklärt diese sich bereit, als Opfer zu sterben. Während Iphigenie schon auf dem Opferaltar liegt, erscheint aber plötzlich Diana und erklärt, Selbstentsagung und Opferbereitschaft seien ihr mehr wert als Blut. Achilles preist die Mildtätigkeit der Göttin und alle stimmen in den Jubel ein. Eine geradlinige Handlung, keine Intrigen, keine unerwiderte Liebe, keine Rachegelüste. Doch das ist auch ein Grundproblem dieser Oper: Es passiert wenig. Die Geschichte ist schnell erzählt und wird nur durch die vielen Arien auf knapp drei Stunden ausgedehnt.

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Und diese Arien haben es in sich! Doch wie Jasmin Delfs in der Titelrolle durch ihre Arien spaziert, kann man nur als brillant bezeichnen. Von ihrer ersten Arie Non corrisponde al ver an bezaubert sie mit ihrer glasklaren und völlig vibratolosen Sopranstimme. Wenn sie in einigen improvisierten Passagen bis in große Höhen, fast schon ins Pfeifregister vordringt, bleibt ihr Stimmklang stets rund, weich und innerhalb des Affektes. Blitzsauber sind die unangenehmen Intervallsprünge in der Arie All’amor di dolce madre, bei Koloraturen wie beispielsweise in Padre, sì grande affetto sitzt jede Phrase perfekt. Ihr Bühnenpartner Maayan Licht in der Rolle des Achille(s) steht ihr in nichts nach. Sein beeindruckender Sopran ist äußerst wandlungsfähig und besticht insbesondere im Pianissimo subito. Wenn er etwa am Ende von Nel già bramoso petto oder im B-Teil von Le limpid‘ onde seine Dynamik bis an die Grenze des Hörbaren reduziert, ist es im Opernhaus mucksmäuschenstill. Dass er aber auch wilde Affekte beherrscht, beweist er etwa in den Arien Allontanata agnella und Tratto al guardo avvelenato, deren endlose (zugegeben in kompositorischer Hinsicht recht uninspirierte und repetitive) Koloraturpassagen er hervorragend meistert. Fesselnd ist obendrein seine Bühnenpräsenz und sein Schauspiel. Gebannt von seiner ausdrucksstarken Mimik hängt man ihm in Rezitativen wie Arien gleichermaßen an den Lippen.

 

Die Rolle von Iphigenies Vater Agamemnon/Agamennone übernimmt Max Emanuel Cencic, der die Oper auch inszeniert hat. Sein deutlich tieferer, sehr warmer Alt-Counter überzeugt in den raschen Arien, auch wenn er vereinzelt droht, seine klangliche Präsenz einzubüßen – vermutlich singt Cencic deshalb auch die meisten seiner Arien an der Bühnenrampe. Am besten klingen bei ihm die lyrischen Nummern wie etwa die von Traversflöten begleitete Arie Oh se la sua beltà. Seine Gattin Klytämnestra/Clitennestra wird von der griechischen Mezzosopranistin Mary-Ellen Nesi verkörpert. Sie hat bereits viel Erfahrung im Barockfach und auf der Opernbühne und ringt ihrer eher kleinen Rolle einige einprägsame Momente ab, etwa in der pompösen Arie Il regno, la sorte.

 

Auch Odysseus ist mit von der Partie, diesmal allerdings nur als Randfigur: Dargestellt vom italienischen Sopranisten Nicolò Balducci, drängt Odysseus/Ulisse im Verlauf der Oper immer wieder darauf, das Menschenoper endlich zu vollziehen, damit die griechische Armee nach Troja weitersegeln könne. Balducci legt seine Rolle daher eher unsympathisch an, mit beeindruckend zwielichtiger Mimik: Sein Odysseus ist ein durchtriebener Schlägertyp, dem nicht zu trauen ist. Stimmlich ist er aber der hellste und klarste der drei Countertenöre des Abends. In seinen beiden Arien Svolgi l’impeto al valore und Scegli Atride glänzt er mit ausgezeichneter Koloraturen-Geläufigkeit und einer atemberaubenden Höhe bis weit in die zweigestrichene Oktave hinauf. Schade, dass seine Rolle so klein ist! Abgerundet wird das Protagonisten-Tableau noch durch die Figur des Hohepriester Kalchas/Calcante. Auch er beharrt bis zum Schluss auf Iphigenies Opferung. Ricardo Novaro interpretiert die Rolle mit großer Bühnenpräsenz und stimmgewaltigem Bariton. Koloraturen singt er sehr präzise, wird dabei aber in tiefer Lage leider des Öfteren vom Orchester überdeckt, während er auf längeren Tönen zu einem wabernden Vibrato neigt.

 

Getragen werden die Sängerinnen und Sänger an diesem Abend vom renommierten französischen Barockorchester Les Talens Lyriques, dem Residenzorchester des diesjährigen Festivals „Bayreuth Baroque“, unter der Leitung eines überraschend ernsten Christophe Rousset. Versiert bringen sie dieses ‚Werk ohne Aufführungstradition‘ zum Klingen und zeigen, dass neben ihren Haus- und Hofkomponisten Lully, Rameau und Händel auch Porpora für sie kein Problem ist. Wenn in der Ouvertüre das Trio aus Oboen und Fagott da mal minimal wackelt, tut das der großartigen Gesamtleistung keinen Abbruch.

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Für die Inszenierung hat sich Regisseur Max Emanuel Cencic offenbar von der barocken Bühnenästhetik inspirieren lassen. Im Hintergrund befinden sich drehbare Stellwand-Elemente, die beliebig angeordnet werden können (Bühne und Kostüme: Giorgina Germanou). Auf diese Weise entstehen mal eine barocke Guckkasten-Bühne, mal ein lockerer Säulenhallen-artiger Raum oder auch mal eine geschlossene Rückwand. Diese wirkungsvolle, schlichte Szenerie wird durch einige stilisierte Elemente wie etwa einen ovalen Opfertisch (der am Schluss umkippt), einen präparierten Hirsch oder mehrere Baum-Gerippe zur Darstellung eines Waldes ergänzt. Die Kostüme der Griechen sind angelehnt an indigene Völker und sollen einen Zivilisierungsprozess aufzeigen – Schritt für Schritt nimmt die Bekleidung zu, ausgehend von kompletter Nacktheit während der Ouvertüre. Ein etwas eigentümlicher Regieeinfall besteht in der Verschmelzung der Rollen von Diana und Iphigenie: Beide Partien werden von Jasmin Delfs gesungen, da – so die Idee – Diana von Anfang an durch Iphigenie wirkt. Deshalb ist Delfs von Anfang an als schwarz gekleidete und maskierte Diana auf der Bühne und singt in dieser Kostümierung auch – quasi unsichtbar für die anderen Protagonisten – Iphigenies Rolle, die wiederum von einer Schauspielerin dargestellt wird. Ob es dieser Verkomplizierung bedurft hätte, sei dahin gestellt; im Publikum sorgte das Konzept jedenfalls vereinzelt für Verwirrung.

 

Die Personenregie ist ansonsten in den Rezitativen locker und natürlich. Zu einem inszenatorischen Problem werden die Arien: Hier hält nach Gattungskonvention die Handlung inne –und das nimmt Cencic leider etwas zu wörtlich. Viele Arien werden vorne an der Bühnenrampe gesungen. Statik kehrt ein. Nur im Hintergrund oder während der Ritornelle finden vereinzelt Aktionen statt. Das erzeugt einige Längen in der ohnehin schon eher handlungsarmen Oper. Das Problem liegt aber auch in Porporas Komposition selbst: Zwar treffen die Arien immer die richtige situative Stimmung, allerdings geraten sie v.a. in den Rahmenteilen zu lang. Die Melismen erscheinen teilweise endlos. Und die Koloraturen sind zwar technisch höchst anspruchsvoll, neigen aber zum sequenziellen Schematismus: „Das sind doch im Grunde alles Solfeggien“, so ein O-Ton aus dem Publikum.

 

Gleichwohl: Die musikalische Darbietung ist so exzellent, dass man im Publikum über diese Mängel des Werkes hinwegsieht bzw. hinweghört – wenn man sie denn überhaupt als Mängel wahrnimmt. Nach fast jeder Arie dankt das Publikum mit enthusiastischem Szenenapplaus. Für Irritationen sorgt noch kurz der Schluss der Oper. Während normalerweise der kehrausartige Schluss-Coro das Ende der Oper markiert, bleibt diesmal das Licht noch kurz an: Einzelne Trommelschläge sind zu hören. Bei jedem Trommelschlag fällt einer der Griechen tot zu Boden. Dann erst: Dunkelheit – und Schlussapplaus. Auch hier lässt die Regie das Publikum ratlos zurück: Soll diese Schlussszene auf die Zukunft verweisen? Auf die Gefallenen im bevorstehenden Trojanischen Krieg? Man weiß es nicht. Und da man aber so nicht aufhören kann, erklingt als Zugabe noch einmal der Schluss-Coro, von Rousset von der Bühne aus dirigiert: Begeisterter Beifall und Standing Ovations!

Stefan Fuchs

Bayreuth Baroque 13.09.2024

 

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