Riskantes Spiel mit dem Olympischen Feuer – Umjubelte L’Olimpiade-Premiere in Innsbruck

Xl_olimpiade-innsbruck-tiroler-landestheaters-2023 © Innsbrucker Festwochen

Die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik haben sich dieses Jahr in puncto Musiktheater und Oratorium ganz auf Antonio Vivaldi eingeschworen. Am 4. August ging nun dessen L’Olimpiade erstmals über die Bühne des Tiroler Landestheaters. Fazit: Die Opernproduktion überzeugt auf ganzer Linie!

 

Dabei ist es schon eine recht eigenartige und – in typischer Seria-Manier – verzwickte Geschichte, die Vivaldi da vertont hat. Schauplatz sind die antiken Olympischen Spiele: Licida von Kreta begehrt die Königstochter Aristea. Ihr Vater, König Clistene von Sikyon, hat sie dem Gewinner der Olympischen Spiele zur Frau versprochen – quasi als zusätzliches Schmankerl zu Palmzweig und Olivenkranz. Praktischerweise ist der eher unsportliche Licida mit dem mehrfachen Olympia-Sieger Megacle befreundet, und da dieser ihm ohnehin noch einen Gefallen schuldig ist, beauftragt Licida Megacle, unter Licidas Namen die Spiele und damit Aristeas Hand zu gewinnen. Dass aber Megacle und Aristea eigentlich ein Liebespaar sind, verkompliziert die Situation, ebenso wie Licidas frühere Geliebte Argene, die ihren Liebhaber zurückgewinnen will. Natürlich fliegt der Schwindel auf, es kommt zu tragischen Missverständnissen und sogar zu Suizid- und Attentat-Versuchen. Schließlich klären sich aber alle Wirrungen auf und man beschließt die Oper mit einer Doppelhochzeit – welch ein lieto fine! Das Libretto verfasste Pietro Metastasio für Antonio Caldara in Wien 1733. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde es aber noch über 70 weitere Male vertont. Vivaldis Version aus dem Jahr 1734 ist die dritte, es folgten Versionen u.a. von Pergolesi, Wagenseil, Hasse, Piccinni und Jommelli. Sogar Donizetti versuchte sich noch 1817 daran.

Regisseur Stefano Vizioli verlegt die Handlung ins Jahr 1936, wie Bühnenbild und Programmheft verraten. Als Inspiration für die Freundschaft zwischen Licida und Megacle dienten Jesse Owens und Luz Long. Die Personen des Librettos werden ins 20. Jahrhundert übertragen, bleiben sich ansonsten aber in ihren Charakteren weitgehend treu, abgesehen von zwei Ausnahmen: Aminta, Licidas Erzieher, wird mit unterdrückter homoerotischer Neigung dargestellt, sei es gegenüber den trainierenden Athleten (Statisterie), sei es gegenüber Licida und Megacle. Das passt sehr gut und überzeugt vollends. Sehr viel düsterer erscheint dagegen die Nebenfigur des königlichen Vertrauten Alcandro, der als braun uniformierter Faschist auftritt. Das wirkt einerseits sehr plausibel, da die Rolle bereits im Libretto sehr wichtigtuerisch angelegt ist – und verweist zudem auf die Zeit der ersten modernen Wiederaufführung der L’Olimpiade 1939 im faschistischen Italien. Andererseits entsteht eine gewisse Komik, wenn Alcandro von anderen Protagonisten abgewürgt und in die Schranken gewiesen wird. Das Lachen bleibt einem dann aber doch im Halse stecken – zu eindringlich verweisen einzelne Motive wie die Frakturschrift auf den Kulissen oder die Leni-Riefenstahl-Ästhetik im Schlussbild auf die Nazizeit und den bevorstehenden Zweiten Weltkrieg. Eindrucksvoll, jedoch nicht gänzlich nachvollziehbar, erscheint auch die Beinahe-Opferung Licidas am Ende: Wie passt das zu den Olympischen Spielen von 1936?

Den Rahmen der ganzen Inszenierung bildet eine Turnhalle (Bühnenbild: Emanuele Sinisi), die sich aber auch in andere Räume verwandeln kann, so etwa in eine Nähstube im zweiten Akt. Die Regie ist insgesamt zurückhaltend und sehr gut auf die Musik abgestimmt, die Personenregie dabei sehr locker und bewegt gestaltet. Dem drohenden Stillstand während der vielen DaCapo-Arien begegnet Regisseur Vizioli mit zahlreichen glücklichen  und sehr humorvollen Regieeinfällen. So zieht sich beispielsweise Megacle während seiner ersten Arie Superbo di me stesso nicht nur auf der Bühne um, sondern absolviert auch einige gymnastische Übungen. Umso stärker wirkt deshalb auf der anderen Seite ein bewusster Stillstand der Personen, wie etwa in Licidas wunderschöner Schlummer-Arie Mentre dormi, Amor fomenti im ersten Akt.

Musikalisch bleiben, selbst bei derartigen darstellerischen Herausforderungen, keine Wünsche offen. Vivaldis Musik klingt frisch, expressiv und in ihrer Dramaturgie äußerst wirkungsvoll. Zu verdanken hat sie das nicht zuletzt Alessandro De Marchi, der das hervorragend spielende Innsbrucker Festwochenorchester versiert und mit schwungvoller Leichtigkeit vom Cembalo aus anleitet. Da sitzt jede rasche, oft unangenehm offen liegende Akkordbrechung in den Streichern sowie fast jeder Ton in den Hörnern. Die Holzbläser sorgen mit dem klug überlegten Einsatz von Oboen, Block- und Traversflöten für herrliche, immer neue Klangfarben. Sorgfältig geprobt wurden offenbar auch die umfangreichen Secco-Rezitative: Die vielen Continuo-Instrumente (zwei Cembali, zwei Theorben, Harfe und Cello) wechseln hier je nach Protagonist und Situation und bringen die verschiedenen Affekte dabei überzeugend zum Ausdruck.

Der sängerische Cast bewegt sich indes mühelos durch die Schwierigkeiten der Partitur. Zwar ist L’Olimpiade, im Gegensatz zu vielen Werken von Vivaldis neapolitanischen Zeitgenossen, nicht auf vordergründige Kehlkopf-Akrobatik sondern eher auf dramaturgische Plausibilität zugeschnitten. Das bedeutet jedoch nicht, dass es dieser Oper an virtuosen Bravourarien mangelt. Star des Abends ist der Brasilianer Bruno de Sá. Sein glockenheller Sopran verfügt nicht nur über ein angenehm warmes Vibrato, sondern auch über einen beeindruckenden Ambitus – eine improvisierte Passage in seiner ersten Arie reicht bis zum Spitzenton e³! In der Arie Siam navi all’onde algenti stellt er darüber hinaus seine exzellente Koloraturen-Geläufigkeit zur Schau. Zudem spielt er fantastisch und mit großem komödiantischem Potenzial. Urkomisch durchbricht er z.B. die vierte Wand und fleht mit eindeutigen Gesten den Dirigenten an, die schier endlose DaCapo-Arie der lästigen, in seinen Armen liegenden Argene doch bitte bald zu beenden. Zu de Sá gesellen sich zwei weitere Countertenöre. Raffaele Pe singt und spielt die Partie des Megacle sehr überzeugend. Seine Stimme ist warm und samtweich, kann gleichzeitig auch sehr durchsetzungsstark klingen, bewegt sich aber hin und wieder an der intonatorischen Unterkante. Ein Highlight ist sein ausgedehntes Accompagnato im zweiten Akt, als er, über der ohnmächtigen Aristea, die Zerrissenheit seiner Figur zwischen Pflicht und Neigung sowohl stimmlich als auch darstellerisch äußerst überzeugend zu gestalten weiß. Die Rolle seines Freundes Licida übernimmt Bejun Mehta, dessen schöner, kraftvoller Counter einen maskulinen Kern im Ton besitzt und somit perfekt zu seiner doch recht Testosteron-getriebenen Rolle passt. Seine Glanzszene hat er aber am Ende des zweiten Aktes, als er nacheinander von Aristea und Argene zusammengefaltet, anschließend von Aminta über den vermeintlichen Selbstmord seines Freundes Megacle unterrichtet und schließlich von Alcandro auf Geheiß des Königs ins Exil geschickt wird. Diese rasche und bittere Implosion seiner heilen Lebenswelt entlädt sich in Licidas eindrucksvoller Soloszene mit der anschließenden Raserei-Arie Gemo in un punto e fremo, die Mehta bravourös meistert. Das ist großes, psychologisch durchdachtes Musiktheater! Assoziationen etwa mit der berühmten Wahnsinns-Szene aus Händels Orlando drängen sich geradezu auf.

Auch die beiden weiblichen Rollen sind ausgezeichnet besetzt: Margherita Maria Sala verkörpert die Rolle der Aristea sehr überzeugend und führt sie durch all die vielen Seelenzustände, die das Libretto vorschreibt. Mit ihrem sehr warmen Alt lässt sie etwa in der innigen Arie Sta piangendo la tortorella im zweiten Akt das Weinen der Turteltaube erahnen oder verleiht in dem Duett mit ihrem Geliebten Megacle ihrer Verzweiflung über dessen rätselhafte Äußerungen Ausdruck. Auch die Tessitur von Benedetta Mazzucato alias Argene liegt eher tief: Bis zum kleinen g reicht ihre Improvisation, als sie – im Bett liegend – ihre erste Arie Più non si trovano anrührend ins Kissen schluchzt.

Ein seltsames Zwischenfach ist die Rolle des Königs Clistene: Vivaldi notiert dessen erste Arie im Tenor-, die zweite aber im Bass-, und die dritte wieder im Tenorschlüssel. Besetzt hat man die Rolle in Innsbruck mit dem Bariton Christian Senn. Er beherrscht in stimmlicher Hinsicht alles, was die Partie verlangt. Wirkte seine erste Arie auch streckenweise noch etwas reserviert, so versteht er es umso bewegender, mit seiner letzten, in formaler Hinsicht bemerkenswerten Arie Non so donde viene, den absurden finalen Plot-Twist plausibel erscheinen zu lassen: Clistene entwickelt väterliche Gefühle für Licida, der gerade einen Mordanschlag auf den König verüben wollte und nun zum Tode verurteilt ist. Kurz darauf wird ihm in der letzten Szene offenbart, dass Licida tatsächlich sein totgeglaubter Sohn ist! Überraschend vielschichtig kommt die Figur des Alcandro daher, exzellent verkörpert von Luigi De Donato. Er ist Handlanger des Königs, möglicherweise ein faschistischer Emporkömmling, Möchtegern-Respektsperson, und erinnert in der Anlage an Charlie Chaplins Großen Diktator. Er genießt es, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, und beharrt unerbittlich auf der Einhaltung der Gesetze. Gleichzeitig zeigt er im letzten Akt auch einfühlsame Facetten. Auch stimmlich beeindruckt De Donato: Sein Bass ist stimmgewaltig und dennoch flexibel und wendig, mit einem warmen Kern. Besonders brillant gestaltet er seine letzte Arie Sciagurato in braccio a morte.

All diese hervorragenden Leistungen dankt das begeisterte Festspiel-Publikum mit furiosen Beifallstürmen nach fast allen Arien und stehenden Ovationen im Schlussapplaus. Man bekommt Lust und ist gespannt auf die nächste Produktion (Vivaldis La fida ninfa am 14. August). Bleibt zu hoffen, dass die L’Olimpiade auch ihren Weg aus dem Festivalbetrieb heraus und hinein in den Spielplanbetrieb von Opernhäusern findet – das interessierte Publikum wäre da!

Stefan Fuchs

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