Alex Ross Die Welt nach Wagner –eine umfassende Entdeckungsreise um 360 Grad
Der Amerikaner Alex Ross, geboren 1968, ist ein Kenner der Musikgeschichte und Musikwissenschaft mit breiter Ausbildung, studierte unter anderem Komposition und arbeitete als Musikkritiker. Diese Wissensbreite, Vielseitigkeit seiner Kenntnisse, die schriftstellerische Begabung und eine Neigung zu erschöpfender, wenn nicht rastloser überbordender Analyse fließen in sein neues Buch ein, welches er dem gefeierten, geliebten und gehassten, dem umstrittenen Genie Richard Wagner widmet. Dabei bearbeitet er nur am Rande das Leben, Werk und die Persönlichkeit des deutschen Komponisten, sondern taucht nahezu kriminologisch vielmehr tief und unaufhörlich in eine Aufarbeitung der künstlerischen, sozialen, politischen Welt nach Wagner und dessen Einflusssphäre.
Ausgehend von der Beschreibung des beginnenden Wagnerkultes und des sogenannten Wagnerismus besonders in Frankreich aber ebenso in Deutschland, England bis Amerika entwickelt sich sein Streifzug durch die wachsende Wagnerbegeisterung am Ende des 19.Jahrhunderts bis in die Gegenwart.
Gekonnt und packend zugleich sticht er in die Schöpfungen einer nahezu unendlichen Zahl von Künstlern, egal ob Schriftsteller, Musiker oder Maler, und deckt zur Verwunderung des aufmerksamen Lesers eine verblüffende Vielfalt von künstlerischen Auseinandersetzungen aber insbesondere Bezügen zu seinen Werken, Helden aber auch dessen umstrittenen literarischen Schriften her.
Waren in Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert Wagners initiierten Skandale kausal für eine kontroverse insbesondere auch politische Auseinandersetzung konnte England oder das junge Amerika dem wenig abgewinnen, dagegen aber eine inhaltliche Identifikation mit deren nordischen Sagenwelt feststellen. Englische Sagen ähneln deutschen Helden und Hedonismus schlagen Brücken zum gegenseitigen Kunstverständnis bis zu Konkurrenzgedanken.
All dies beflügelt die Bekanntheit von Wagners Werk und Weltanschauung. Seine Judenverachtung wird in England weniger thematisiert. Ross greift aufschlussreich Parallelen auf, die die Präsenz und den Einfluss Wagners als Person sowie als Verfasser seiner Libretti und Komponist auf die junge nachfolgende Künstlergeneration bis zu mancher Absurdität aufzeigen.
Breit arbeitet er an der Auseinandersetzung der aufeinanderprallenden grossen Geister Nietzsche und Wagner und bringt viel Wissenswertes und Verblüffendes ans Tageslicht. Die Freundschaft und die nachfolgende Trennung und gegenseitige „verehrerische“ Ablehnung hat internationale Kunstgeschichte geschrieben, da Beide eine unglaubliche Strahlkraft schon zu deren Lebzeiten hatten.
Flüssig gleiten die Protagonisten des entstehenden und kultivierten Personenkults in der Lektüre vorbei. Ein wahres Who is Who der Literatur, Kunst- und Musikgeschickte und das Buch entwickelt sich zu einer regelrechten Enzyklopädie. Wie in einem Nachschlagewerk reihen sich große Namen aneinander. Die Engländerin Mary Ann Evans war eine frühe Bewunderin und setzte sich noch unter dem Pseudonym George Eliot mit Wagners Kompositionen auseinander. In Irland zeugen die Werke von W. B. Yeats und seine Golden Dawn oder in Amerika Mark Twain und dessen Bericht seiner 10 tägigen Bayreuth von der frühen Wirkungskraft des Sachsen.
Scheinbar nichts bleibt von der Strahlung Wagners verschont. Strömung und Werke der Philosophie, Religion, Geisteswissenschaften, Politik, Gesellschaftspolitik und vieles andere bis zur Psychologie werden von Axel Ross akribisch zerlegt und aufgezeigt. Das englische Königshaus, Stalin, Lenin und insbesondere Hitler sind als Liebhaber seiner Musik bekannt, aber sie bedienten sich auch seiner Schriften und gesellschafts- politischen Aussagen für ihre Zwecke.
Wagner wird gleichzeitig zu einer Ikone der damaligen Popkultur, umfasst den Zeitgeist und die politische Willensbildung. Die Begeisterung für Buddhismus, Esoterik, Okkultismus, Satanismus, Kabbalismus lassen sich insbesondere aus dem Erlösungswerk Parsifal herleiten, genauso wie Rassismus, Antisemitismus, Kapitalismus, Feminismus oder die Geschlechterdiskussion beispielsweise aus dem Ring. So setzt auch eine Diskussion über die freie, die gleichgeschlechtliche Liebe in Paaren wir Isolde und Brangäne oder Tristan mit Kurwenal an, natürlich wirkt die Geschwisterliebe zwischen Siegmund und Sieglinde mit hinein. Sind Beckmesser, Kundry Alberich oder Mime Juden oder tragen jüdische Züge?
Jedes Thema, jedes Problem scheint sich logisch nachvollziehbar wiederzufinden und von Richard Wagner berücksichtigt worden zu sein. Die Herleitung und die Diskussion, die darüber in der philosophischen und künstlerischen Welt der Vergangenheit aber auch bis heute geführt wurden und werden liest sich wie eine ungeahnte Offenbarung. Ob der Meister sich in dieser Weise selbst verstanden wissen möchte bleibt dahingestellt.
In diesem Zusammenhang ist Alex Ross Konfrontation mit den Werken von James Ensor als Wegbereiter des Kubismus und Expressionismus als Verehrer Wagners zu nennen, genauso wie Joseph Conrad als Erneuerer des Romans und des Ausbruchs bürgerlicher Revolte. Es folgen u.a.
H D Lawrence dessen Romanfiguren in „Women in Love“ oder „The Rainbow“ klar Züge von Wagnerschen Opernfiguren wie Siegfried, Alberich, Isolde, Brangäne etc tragen. E M Forster’s
„The longest Journey“ prägen Züge von Parsifal und der Held ist Amfortas tituliert oder auch in Virginia Woolf „Melymbrosia“. Die prägenden Werke wie „Ulysses“ von James Joyce oder „the waste land“ von TSElliot lassen unverkennbar den Bezug zum Fliegenden Holländer und deren Auseinandersetzung mit Richard Wagner erkennen.
Marcel Proust setzt in „A la recherche du temps perdu“ bis zu seinem letzten Roman “Le temps retrouve“ das Leitmotiv in der Literatur um. Tristaneske Sehnsucht der Auslöschung in der Luft findet sich in Gabriele d’Annunzio s Liebestod Roman „Il Trionfo della morte“ . Viel wurde bereits über die Brüder Heinrich und Thomas Mann und deren bigote Verehrung Richard Wagners in deren eigenen Werken geschrieben. Deren berühmte Werke `“Die Buddenbrocks“, „Tod in Venedig“ sowie „Der Unteran“ sind dicht an Bezügen zur Musik und Geisteshaltung Wagners.
Die Liste läßt sich noch lange mit bedeutenden Namen und bemerkenswerten Parallelitäten fortsetzen.
Der Wagner - Kult erreicht einen Gipfel mit der Eröffnung der Bayreuther Festspiele und der Umsetzung des Gesamtkunstwerkes auf der Bühne im eigen gestalteten Festspielhaus. Nunmehr wird der Wagnerismus auch zum Mythos und zum mystischen Zirkel. Künstlerisch kommt die Strahlung auf das lebendige Theater dazu. Architektur, Bühnenbild und Technik, letztendlich Gesang, Regie und Choreografie treten in neue Dimensionen und sind prägend bis zu den multimedialen Happenings des 20. und 21. Jahrhunderts. Wagners Musik wird folglich bei Großspektakel genutzt und findet unzählige Verwendung, von Aufmärschen, Hochzeiten bis zur Filmmusik in Hollywood.
Der apostrophierte „Beginn der Moderne“ mit der Premiere von „Le sacre du printemps“ des Ballett russes von Serge Diaghilev mit der Musik von Igor Stravinsky 1913 in Paris wäre ohne Wagner nicht möglich. Wie passend, dass dessen 100. Geburtstag in der gleichen Woche gefeiert wurde.
Besonderen Unterhaltungswert besitzt der Ausflug von Alex Ross in die technische Revolution - „Zum Raum wird hier die Zeit“ als Schlaglicht. So lernt der Leser, dass „Valkyrie“ der Name des Ballons der Luftfahrtpionierin Asheton Harbord ist, die als erste den Ärmelkanal überquerte. „Parsifal“ hiess auch ein Modell von Benz und „Parsifal bleu“ hatte in der Mode Erfolg. Auch hier gibt es weitere lernenswerte Beispiele.
Viel Wissenswertes steckt in diesem über 800 Seiten umfassenden Buch, die Lektüre ist ebenso anspruchsvoll wie unterhaltsam. Legt der aufmerksame Leser das Buch am Schluss zur Seite herrscht Ermattung angesichts der geballten Ladung von Wissen über diesen außergewöhnlichen Menschen Richard Wagner und seiner unglaublichen nahezu allumfassenden Präsenz bis zum heutigen Tage.
Ein Geschenktipp für Weihnachten - Erschienen im Rowohlt Verlag
08. Dezember 2020 | Drucken
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