„Selbst die schrecklichen Ereignisse können die Kunst nicht stoppen“
Der neue Chefdirigent an der Deutschen Oper am Rhein Vitali Alekseenok im Gespräch mit Opera Online
Der in Belarus geborene Vitali Alekseenok wird am Konservatorium St. Petersburg und an der Hochschule für Musik Weimar zum Dirigenten ausgebildet. 2021 gewinnt er den Arturo-Toscanini Dirigentenwettbewerb. Als Dirigent und Assistent arbeitete er an Opernhäusern in München, Barcelona, Wien, Graz, Weimar, Odessa. Im Juni 2021 wird er zum Künstlerischen Leiter des ukrainischen Festivals Kharkiv Music Fest ernannt. 2022 debütiert er an der Mailänder Scala mit der Uraufführung von Valtinonis Il piccolo principe. In der Spielzeit 2022/23 wird Alekseenok als Erster Kapellmeister an die Deutsche Oper am Rhein engagiert, mit der aktuellen Saison Chefdirigent der Rheinoper,
Alekseenok ist nicht zuletzt durch seine Beteiligung an den öffentlichen Protesten gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko in Minsk bekannt geworden. Mit ihm sprach Opera-online-Mitarbeiter Ralf Siepmann kurz vor der Nabucco-Premiere in Düsseldorf.
Minsk und St. Petersburg sind die ersten Stationen ihrer beruflichen Ausbildung. Hat Sie die russische Opernschule besonders geprägt? Insbesondere Tschaikowski, Glinka, Mussorgsky, Schostakowitsch.
Zur Oper bin ich dank Guiseppe Verdi gekommen. In Minsk damals habe ich La Traviata, Rigoletto undAida genau studiert. Insbesondere mit den Hauptprotagonistinnen dieser Werke habe ich mitgefühlt und mitgelitten. Das italienische Melodramma war der erste wichtige Impuls, der mich später zur Oper geführt hat. Und zur Liebe zur Oper.
Und die großen russischen Meister?
Mein erster Dirigierauftrag war in Minsk während meines Studiums die Ouvertüre zu Aleko von Sergei Rachmaninow. In St. Petersburg habe ich mich sehr intensiv mit Eugen Onegin beschäftigt, mich in die Opern von Mussorgski verliebt und die Opern von Rimski-Korsakow entdeckt. Allerdings, da ich aus dieser Gegend komme, heißt es nicht unbedingt, dass die slawische Oper mein erster Fokus ist. Mein Dirigierprofessor aus St. Petersburg, Alexander Alexeev, studierte zur gleichen Zeit wie Giuseppe Sinopoli bei Hans Swarowski in Wien. Er ist immer im Kontext der deutschen und österreichischen Kultur geblieben und hat mir generell viel mehr die Komponisten der deutschen Romantik nahegebracht.
Nach Nabucco, Ihrer Eröffnungspremiere, stehen Lady Macbeth von Mzensk und Eugen Onegin auf dem Spielplan. Werden die Düsseldorfer Symphoniker mit Ihnen eine neue Sichtweise auf die Interpretation russischer Opern entwickeln?
Die Rheinoper verfügt über den großen Luxus von zwei Orchestern. Mit dem Düsseldorfer habe ich Onegin bereits in der letzten Spielzeit gemacht. Jetzt wird Onegin eine Übernahmepremiere in Duisburg. Für mich wird es sehr interessant sein, wie wir Onegin in Duisburg interpretieren. Es wird auf jeden Fall anders als in Düsseldorf klingen.
Johannes Erath hat 2023 im Opernhaus Düsseldorf La sonnambula inszeniert, eine sehr beachtete Produktion. Antonino Fogliani hatte die musikalische Leitung. Sie haben erkennen lassen, sich besonders für Belcanto zu interessieren, und die italienische Sprache erlernt. Gibt es Pläne auf diesem Gebiet?
Was die nächsten Jahre angeht, kann ich natürlich noch nichts verraten. Jedoch, Belcanto wird in Düsseldorf und Duisburg nicht untergehen, ob unter meiner Leitung oder der Leitung erfahrener Belcanto- oder anderer Dirigenten oder Dirigentinnen. Nabucco steht ja auch noch teilweise in der Belcanto-Tradition.
Der aus der Ukraine stammende Roman Kofman war von 2003 bis 2008 GMD des Beethoven Orchesters Bonn. Sein besonderes Anliegen: die Sinfonien von Dimitri Schostakowitsch und des ukrainischen Komponisten Walentin Sylvestrow, für den Sie sich aktuell auch persönlich eingesetzt haben, bekannt zu machen. Haben Sie vergleichbare Pläne, auf dem Gebiet der Oper und vielleicht darüber hinaus?
Ich möchte mich da nicht unbedingt begrenzen. Es gibt soviel Opernrepertoire. Dass ich nach Düsseldorf gekommen bin, heißt ja nicht, dass ich die slawische Oper gleichsam im Gepäck mitbringe. Es gibt großartige Opern aus der Ukraine wie auch aus anderen Ländern. Es ist aber nicht einfach, solche Werke auf hiesige Bühnen zu bringen. Es ist sprachlich kompliziert, und verlang vieles für die Einstudierung. Ich würde mich aber sehr für das deutsche Publikum über Aufführungen weniger bekannter Werke freuen.
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich der Blick bei Entscheidern im Kulturbetrieb sowie in den Medien auf die russische Musikkultur stark verändert. Sehen Sie zum Beispiel Werke von Alexander Borodin oder Sergei Prokofjew in einem anderen Verständnis?
Im Vergleich zum ukrainischen Diskurs, in dem ich persönlich stark stehe, hat sich in Deutschland sehr wenig verändert. Es gibt hier keine Zensur für russische Musik. Dies mag in Polen, in den baltischen Ländern anders sein. Wir haben an der Rheinoper bei Onegin undDie Jungfrau von Orleans gesehen, dass sich das Publikum nach wie vor für russische Musik interessiert.
In verschiedenen Ländern – Schweiz, Deutschland, Italien – sind russische Opern aus dem Spielplan genommen, russische Sänger ausgeladen worden. Ich erinnere an die heftige Kontroverse um den Auftritt von Anna Netrebko bei den Maifestspielen in Wiesbaden …
… wo es ja nicht um die russische Musik ging, sondern um die Person Netrebko oder auch die Person Waleri Gergijew. Nicht um die Person Tschaikowski. Es gibt, um es so zu formulieren, schon schlimmere Menschen, die diesen Krieg aktuell unterstützen, als die Komponisten, die vor mehreren Jahren verstorben sind. Borodin zum Beispiel ist ganz sicher nicht für den Krieg verantwortlich.
Sollten Sie Gergijew treffen, würden Sie mit ihm sprechen wollen?
Dass wir heute aufeinandertreffen, ist äußerst unwahrscheinlich. Daher kann ich mir auch nicht vorstellen, wie ich mich verhalten würde.
Roman Kofman ist der Meinung, die Nationalität der Komponisten sei unwichtig Sie verrate nichts über Stilistik und Konzeption ihrer Werke. Teilen Sie diese Ansicht?
Es kommt darauf an. Der frühe Verdi ist sicherlich nicht aus dem italienischen Kontext herauszunehmen. Der späte Verdi ist viel unabhängiger. Sein Otello oder sein Falstaff sind viel mehr international oder ohne nationalen Bezug. Junge Komponisten werden meist sehr stark von ihrer Umgebung, auch von der geographischen geprägt. Ich möchte aber den Gedanken Kofmans unterstützen. Unabhängige, starke und geniale Werke müssen meistens gar nicht im Kontext einer Nation gesehen werden.
Sondern?
Viele Komponisten haben im Exil komponiert oder waren im eigenen Land Außenseiter. Andere haben Einflüsse in anderen Ländern aufgegriffen, Glinka etwa, der tolle Stücke im spanischen Stil geschrieben hat, weil er in dem Land einige Jahre gereist ist.
Unter Peter dem Großen stand die aristokratische Musik völlig unter dem Einfluss französischer, deutscher und italienischer Komponisten, von Domenico Cimarosa bis Giovanni Paisiello. Halten Sie eine neuerliche kulturelle Öffnung des heutigen Russlands gegenüber der Kultur des Westens für ausgeschlossen, jedenfalls auf Jahrzehnte?
Erstens bin ich aus offensichtlichen Gründen nicht besonders an den aktuellen Ereignissen in Russland interessiert. Ich kann mir aber vorstellen, dass Wagner, Puccini, Verdi dort nach wie vor aufgeführt werden. Sie sind Weltkulturerbe. Würde man dort sich auf das russische Repertoire beschränken, so wäre dies selbst für Russland eine undenkbare Verarmung. Die Kunst hat da keine Grenzen. Selbst die schrecklichen politischen und militärischen Ereignisse in der Verantwortung des russischen Regimes können die Kunst nicht stoppen.
Sie haben sich 2020 über mehrere Wochen an den Protesten gegen den belarussischen Machthaber Lukaschenko beteiligt, 2021 in ihrem Buch Die weißen Tage von Minsk die politische Lage und das Ringen um Demokratie und Freiheit in ihrem Heimatland geschildert. Muss der Künstler öffentlich für Werte auf die Straße gehen, die die Freiheit der Kunst bedrohen?
Muss, nicht, kann schon. Vielleicht sollte er, wenn es um die Köpfe und die Herzen der Menschen geht. Es gibt Ereignisse, die schwerlich ignoriert werden können. Gerade dann, wenn sie - wie in meinem Heimatland - sehr nahe sind. Es ist aber die Entscheidung jedes einzelnen Künstlers. Meine Meinung ist: Mit Haltung ist besser als ohne. Wir Künstler haben eine gewisse Verantwortung für das Künstlerische, das Intellektuelle, das Ethische.
Beruf verlangt auch pragmatische Einstellungen. Ist es Ihnen möglich, Kunst von Politik, Werk von Person zu trennen?
Sie sprechen ein für mich sehr wichtiges Thema an. Beispiel Richard Wagner. Er polarisiert, er spaltet, und in seinen Werken ist auch Trennendes angelegt. Ich freue mich, in dieser Spielzeit Rheingold in Duisburg dirigieren zu können – ein Werk, in dem das Thema mit Alberich und Mime – Stichwort Antisemitismus – sehr aktuell ist. Man kann natürlich die Meinung entwickeln, dass die Rolle von Alberich nicht nur oder nicht unbedingt mit der antisemitischen Haltung Wagners verbunden ist. Mit Rheingold wird ein Diskursraum geschaffen, in dem hierüber gesprochen werden kann. Man darf nicht die Augen verschließen wie auch im Fall Richard Strauss ab 1933.
Nikolei Rimski-Korsakow fand, dirigieren sei eine dunkle Kunst. Kofman meint, wir könnten 99 Prozent des Dirigats erklären, aber nicht dieses eine Prozent, warum ein Orchester bei dem einen Dirigenten so und unter einem anderen anders klingt. Dirigieren in der Oper – für Sie eine Kunst mit einem Rest an Unerklärlichem?
Musiktheater ist sehr komplex. Wenn wir uns hier im Gespräch auf das Dirigieren beschränken, gibt es tatsächlich Geheimnisvolles, auch für mich. Musiktheater ist im Grunde ein utopisches Genre. Eine Utopie der Kunst, sogar der Kunstgeschichte. Beginnend mit den Italienern um 1600, die es gewagt haben, alle Künste der damaligen Zeit einzubeziehen. Jetzt kommen noch die modernen Künste hinzu, etwa Film und neue Medien. In all diesem ist Dirigieren nur ein Teil, sicher ein wesentlicher, aber nur ein Teil.
Was ist dann entscheidend?
Es kommt auf gute Organisation genauso an wie auf Zufälligkeiten. Selbst in unseren Repertoirevorstellungen gibt es ständig veränderte Besetzungen, im Orchester, im Chor, bei den Solisten. So entsteht viel Raum für Spontanes, für dieses Unerklärliche, für den Moment. Die Arbeit des Bühnentechnikers wie des Inspizienten ist für das Entstehen des Gesamtkunstwerks Oper am Ende genauso wichtig wie das Dirigieren.
Was bringen Sie als Dirigent in die Rheinoper ein?
Leidenschaft für die Oper mit einer gewissen Spontaneität und doch eine gewisse Strukturiertheit, die ein Musiktheater braucht.
Interview: Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto:Liliya Namisnyk
27. September 2024 | Drucken
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