„Es geht nicht um Vollkommenheit“ - Die Sopranistin Vera-Lotte Boecker im Gespräch

Xl__c__monarca_studios_vera-lotte_boecker311__1_ © Monarca Studios

„Es geht nicht um Vollkommenheit“

Die aus Brühl im Rheinland stammende Sopranistin Vera-Lotte Boecker, zuletzt Ensemblemitglied der Staatsoper Wien (2020-2022), zeichnet sich durch ein weit gespanntes Spektrum an Partien aus. Es reicht von Micaëla in George Bizets Carmen, Pamina in der Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart über Daphne von Richard Strauss und Alban Bergs Lulu bis zu Hans Werner Henzes Das verratene Meer und zur Partie der Nadja in Bluthaus von Georg Friedrich Haas.

Am 18. Mai dieses Jahres stellte die in Wien lebende freischaffende Trägerin des Deutschen Theaterpreises Der Faust (2023) in der von ihr moderierten Ausgabe der wöchentlichen Sendung Klassik-Pop-et cetera des Deutschlandfunks Stimmen vor, die die Sängerin am meisten beeindruckt haben. Für Opera-online-Mitarbeiter Ralf Siepmann ein Anlass, ein Interview mit ihr zu Aspekten der Stimme in der Oper zu führen.

Ist die Auseinandersetzung mit großen Stimmen der Vergangenheit für Sie ein Weg eigener Weiterentwicklung?

Absolut! Aber nicht nur mit den Stimmen der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Ich höre wahnsinnig gern Aufnahmen aus allen Epochen. Wenn mir eine Stimme besonders gut gefällt - Stimmen können ja geradezu süchtig machen -, beschäftige ich mich automatisch damit, wie sie technisch funktioniert. Ob diese Beschäftigung zur Entwicklung meines Singens beiträgt? Ich denke schon, aber eher indirekt.

Welche Stimmen haben Sie süchtig gemacht?

Die von Kathleen Ferrier, Jessye Norman, Maria Callas natürlich, Lucia Popp und Mirella Freni.

Was sind für Sie weitere Entwicklungswege?

Ich gehe regelmäßig zum Unterricht und frage auch gern Kollegen, bei denen ich etwas bewundere. Man ist bei manchen Produktionen ja auch miteinander befreundet. Wenn man da einander vertraut, kann man gute Anregungen erhalten. Ich nehme alle Orchesterproben auf. Ich lege mein Handy in den Zuschauerraum, mache mir ein Sprachmemo und geh damit nach Hause, höre mit den Noten durch, was mir davon gefällt, was nicht. Ich mache mir Notizen zu dem, was ich beim nächsten Mal anders machen will. Das ist ein Prozess, der nie aufhört.

Timbre, Tessitura, Legato: Ist es für Sie wichtig, dass das Publikum Stimmen von Opernsängern fachlich versteht, nicht rein emotional einordnet?

Ich habe mich das nie gefragt. Aber mit dem Umzug nach Wien habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich das Wiener Publikum gut auskennt und dass dort leidenschaftliche Operngänger- und Konzertgänger die Häuser besuchen. Ich behaupte, wer sich in der Materie etwas auskennt, für den ist das eigene Hörverständnis tiefer, was ja nicht nur für den stimmtechnischen Bereich gilt. Wenn ich zum ersten Mal Wagner höre, verstehe ich von diesen Harmonien mutmaßlich weniger als in meiner 50. Wagner-Aufführung. Bis dahin werde ich mich schon viel mehr eingehört haben. Je tiefer man in die Materie eindringt, desto tiefer kann, muss aber nicht, das Erlebnis sein.

Sind Kenntnisse d e r Zugang zur Oper?

Nein. Man kann die Tiefe der Musik auch emotional erleben, ohne viel vorher gehört zu haben. So ging mir es bei meinem ersten Kontakt zu klassischer Musik. Ahnung hatte ich keine, aber die Begeisterung war sofort da. Sowohl der absolute Kenner wie derjenige ohne Erfahrung kann von einer klassisch ausgebildeten Stimme tief bewegt werden. Genau dies macht den Zauber von Oper aus, weil es eben verschiedene Arten des Zugangs gibt. Verständnis ist nicht die Voraussetzung für Opernbegeisterung.

Spüren Sie in Auftritten als Daphne oder Gilda, wenn das Publikum einigermaßen sachverständig ist?

Ich spüre, ob das Publikum mit einem Werk vertraut ist. Es ist ein Unterschied, Henzes Das verratene Meer oderBluthaus von Haas, ein Werk, das kaum jemand kennt, oder die Zauberflöte zu singen. Ich spüre, ob das Publikum Hörerwartungen hat oder gar keine. Das ist nebenbei gesagt das Schöne an Neuer Musik, dass das Publikum keine Erwartungen mitbringt, wie ein Werk zu klingen hat. Dass es wirklich offen ist. Genauso schön ist es allerdings, bei der Zauberflöte die Freude des Publikums mitzuerleben, wenn ein Hit auf den anderen folgt und jeder seinen Favoriten hat.

Erliegen Sängerinnen und Sänger nach Ihrem Überblick der Verführung, stimmlich auf das Publikum einzugehen? Indem sie bestimmte Eigenarten verstärken oder mindern, anders akzentuieren, um besser „ankommen“ zu wollen? Wie ist es da mit Ihnen?

Natürlich kann es passieren, wenn man einen stimmlich guten Tag hat, dass man bestimmte hohe Töne besonders lange hält. Von Verführung möchte ich da aber nicht sprechen. Die Stimme ist an jedem Abend in einer anderen Verfassung, hat andere expansive Möglichkeiten. Es gibt Abende, in denen man auf seine volle Stimmkraft zugreifen kann, um auch besondere Akzente zu setzen. Es gibt aber auch Abende, wo es angezeigt ist, technisch sehr achtsam und überhaupt vorsichtiger zu singen, weil man vielleicht angeschlagen ist.

Und gibt es dafür einen Ausweg?

Vielleicht wird ein Sänger dann eher versuchen, über Farben, Dynamiken und Nuancen eine reichhaltige Interpretation zu erreichen, wo er an einem anders disponierten Abend vielleicht über Strahl und Kraft eine Phrase angegangen wäre. Ziel ist dabei aber nicht, das Publikum zu verführen, sondern sein Bestmögliches zu geben. Man passt den Abend an die jeweiligen Bedingungen und das Zusammenspiel mit den Kollegen an. Gute Kollegen gehen auch auf einander ein. Wenn beispielsweise ein Bühnenpartner einen schweren Infekt hat, werde ich sicherlich nicht gemeinsame Kadenzen extra halten und ihn in Probleme bringen. Oder in einem Duett voll aufdrehen.

Ist die Stimme wirklich jeden Tag anders?

Ja, bei jeder Aufführung, an jedem Tag. Der Körper ist anders, die Verfassung ist anders. Für Frauen, die hormonell zyklusbedingt jeden Monat enorme Veränderungen durchlaufen, gilt das noch in höherem Ausmaß. Der Profisänger verfügt aber über so viele Werkzeuge, dass er es schafft, unabhängig von seiner Tagesverfassung immer ein bestimmtes Niveau zu erreichen. Die Tagesverfassung ausgleichen zu können, ist eine ganz wesentliche Fertigkeit zum Überleben im Betrieb.

Erleben Sie gelegentlich „falsche“ Reaktionen des Publikums? Etwa Jubel nach einer Violetta-Arie in Verdis La traviata, von der die Sängerin glaubt, dass sie ihr nicht geglückt ist?

Das kann ich nachvollziehen, möchte aber nicht der darin steckenden Wertung folgen. Mein Kunstbegriff ist ein ganz anderer. Ich betrachte Oper als ein Kunstwerk, das im Zusammenhang mit den Rezipienten entsteht. Das Publikum ist durch seine Ohren und Augen Teil dessen, was gerade entsteht. So kann es auch keine falschen Reaktionen geben. Natürlich kann es unhöfliche geben, wenn gebuht wird. Wenn das Publikum nach einer Arie bewegt ist und jubelt, auch wenn damit – sagen wir – technische Schwächen verbunden waren, geht dies über technische Dinge weit hinaus. Wir Opernsänger transportieren letztendlich sehr kondensierte Emotionen. Das hohe C ist kein Selbstzweck, und Opernsänger sind auch keine Zirkuspferde oder Sportler, deren Leistung klar messbar ist. Es geht nicht darum, technische Vollkommenheit zu feiern. Es geht überhaupt nicht um Vollkommenheit. Es geht vielmehr um Authentizität und den eigenen Körper, die eigene Stimme, zum Gefäß zu machen, durch den die Musik fließen kann.

Es scheint eine aktuelle Mode zu sein, dass das Vibrato im Operngesang stärker eingesetzt wird als in der Vergangenheit. Übersteigt es die Grenze zum unnatürlichen Vibrato, schmälert es häufig den Gesamteindruck. Lässt sich die Grenze zwischen natürlichem Vibrato und unnatürlichem Vibrato ziehen?

Der Stimmgeschmack verändert sich ständig. Was in den 1960er-Jahren ein offener, heller Klang war, würde im 21. Jahrhundert eventuell als „flacher“ Klang empfunden. Umgekehrt würde man mit den Ohren der 60-er hören, würden manche heutigen Stimmen eventuell als abgedunkelt oder rückverlagert empfunden werden. Das Vibrato ist in seiner gesunden Form angeboren, es gibt selbstverständlich schneller und langsamer schwingende Stimmen. Lucia Popp etwa hatte ein sehr schnelles Vibrato. Ich denke, man kann zwischen einem natürlichen, stärker ausgeprägten Vibrato und einem Tremolo, wo die Stimme zu weit ausschwingt, unterscheiden.

Kann das unnatürliche Vibrato auch mit Ursachen unabhängig vom Sanglichen zu tun haben?

Ja, etwa damit, dass Orchester heute lauter sind, dass Bühnenbilder schlechter werden. Wenn ein Sänger gezwungen ist, um sich akustisch durchzusetzen, auf den Stimmapparat Kraft auszuüben, kann dies heute ein größeres Problem sein, als es dies in der Vergangenheit war. Ich habe auch in Wien erlebt, was ein gutes Bühnenbild ist. Man kann über Inszenierungen von Otto Schenk denken, was man will. Aber die Bühnenbilder sind so gebaut, dass man darin mühelos singen kann. Gewiss gibt es auch heute phantastische Bühnenbildner, die Sängerbelange berücksichtigen, beispielsweise Etienne Pluss, der die Ausstattung von Bluthaus entworfen hat.

Sie fänden es also richtig, wenn die Bühnenbilder stärker aus der Perspektive der Sänger erdacht werden?

Aber ja! Ich halte es für sehr, sehr notwendig, dass Bühne und Orchester für den Sänger so beschaffen sind, dass er druckfrei singen kann. Wir sind als Sänger in unseren Möglichkeiten unmittelbar von der Akustik des Saales, der Reflexionsmöglichkeiten des Bühnenbilds und der Orchesterlautstärke abhängig.

Einführungen von Dramaturgen in Aufführungen sind für das Publikum gewiss positiv. Nach meinen Beobachtungen dominieren dabei weitgehend die Aspekte Handlung und Biographie des Komponisten zum Nachteil der Erläuterung des Musikalischen. Wird da nicht eine Chance vertan, den Zugang Interessierter zur Praxis des Operngesangs zu fördern?

Ja, das denke ich auch. Musik ist eine Art Sprache. Wenn wir schon in der Schule den Musikunterricht, das Singen und weiteres immer weiter abbauen, frage ich mich, wie diese Kunstform langfristig ein Publikum finden wird. Ich denke, je früher man mit klassischer Musik in Kontakt tritt, desto mehr Freude und eine Bereicherung für das gesamte Leben kann sich dann entwickeln. Um beim Aspekt Publikum zu bleiben – ich glaube, dass um das Musikalische erweiterte Einführungen die Opernbesucher interessieren würden. Es ließen sich solche Angebote um einen Pianisten ergänzen, der Schlüsselmomente vorspielt und erklärt. Sie sind ein so wichtiger Bestandteil im Opernbetrieb und durch die Klavierproben mit dem jeweiligen Werk sehr vertraut. Es wäre spannend, ihre musikalische Kompetenz in den Einführungen für das Publikum zugänglich zu machen.

„O bleib, geliebter Tag. Lange weiltest du, so bleib, bleib für immer.“ So drückt Daphne in der Strauss-Oper ihre Empfindung als Wesen der Natur aus. Empfinden Sie nach einer Sie vollauf zufrieden stellenden Aufführung gelegentlich in ähnlicher Weise, nur dass Ihre Gefühle nicht der Natur gelten, sondern dem Geheimnis der Oper?

Natürlich macht eine gelungene Aufführung auch etwas mit mir. Der Zauber liegt dann im Verschmelzen von Person und Figur, eine Art Entrückung, in einem Aufgehen in dem musikalischen Moment. Ich muss allerdings hinzufügen, dass es diesen Zustand in verschiedenen Dimensionen gibt. In die Herrlichkeit etwa nach dem Schlussduett der Sophie mit Oktavian im Rosenkavalier. Leider aber auch in die absolut dunkelsten Sphären, in die man sich verlieren kann wie etwa bei Bluthaus. Es gibt glückbringende und verstörende Dimensionen, und beides gehört zur Oper und zum Sängerberuf.

Interview: Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto Monarca Studios

 

 

| Drucken

Mehr

Kommentare

Loading