Hamburgische Staatsoper
Opera Stabile
Dollhouse
(Clemens K. Thomas)
Uraufführung am 29. November 2024
Es gibt noch funktionierende Koalitionen in Deutschland: das Internationale Opernstudio der Staatsoper mit dem Institut für kulturelle Innovationsforschung der Hochschule für Musik und Theater sowie der Clausen Simon Stiftung fördern neues Musiktheater, das ein junges Publikum anziehen soll. Partner des Internationale Opernstudios sind zudem die Körber- und die J.J. Ganzer Stiftung.
Die Simon Clausen Stiftung hat mit einem Kompositionsauftrag im Jahre 2022 den jungen Komponisten Clemens K. Thomas nach Hamburg geholt, damit er hier seine erste Oper Dollhouse vollendet und zur Uraufführung bringt. Das Stipendium beinhaltet auch die Unterstützung für die Fertigstellung einer parallelen Dissertation.
Jetzt ist die Oper Dollhouse in der Opera Stabile – der kleineren Bühne der Staatsoper – uraufgeführt worden.
Thomas arbeitet zusammen mit dem Librettisten Friedemann Dupelius. Zentrales Thema des Librettos sind Identitätsfragen bei Jugendlichen im Zeitalter der sozialen Medien. Der Komponist ist von jeher auch fasziniert von Puppen. Er möchte in seiner ersten Oper auch die europäischen Traditionen, die sich beispielsweise bei Ibsen oder E T A Hoffmann finden, fortschreiben in die Welt der Jugendlichen heute.
Der Begriff Cuteness spielt eine wichtige Rolle, in der deutschen Übersetzung „Niedlichkeit“, in seiner umfassenden Bedeutung eine zeitgenössische Ästhetik, die stark im asiatischen Raum verbreitet ist. Umgeben von Krisen wie Demokratiezweifeln, kriegerischen Auseinandersetzungen oder Migrationsproblemen suchen Jugendliche heute neue Räume oder Ästhetiken, die Empathie und Gemeinschaft vermitteln. In einer „selbstbewussten Unschuld“ soll Hass und Gewalt zurück gedrängt und mit neuen Formen dem kapitalistischen Umfeld begegnet werden.
„Cute ist das neue Cool“ sagt Thomas. Es ist der Versuch, Nähe statt Distanz in einer immer gespalteneren Welt zu erzeugen. Es geht um einen „postironischen Zugriff“ im Gegensatz zu einem (alten) lähmenden Ironie-Ansatz. Eine neue Ironie, die oszilliert, mal ernst, dann wieder unernst sein will, auf jeden Fall weit weg vom Zynismus.
Solcherart facettenreiche gesellschaftliche Betrachtungen scheinen unmittelbar tauglich für eine Dissertation. Aber kann mit diesem gewaltigen Überbau auch eine Bühnenrealisierung gelingen?
Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Mädchen, kurz vor ihrem 16. Geburtstag. Sie ist umgeben von Puppen und sozialen Medien, auf denen Freundinnen und Influencerinnen mit ihr kommunizieren. Sie selbst tritt auch als Avatar in Erscheinung. Ein neuer Nachbar lädt zur Grillparty ein. Es folgt eine Auseinandersetzung zur Problematik des Fleischkonsums. Inzwischen wird auch der Nachbar als Puppe gesehen. Als er unentwegt weiter nervt, wird er selbst von den Puppen und dem Mädchen zu einer riesigen Wurst verarbeitet. Die Influencerin Synthia preist Plastik als den idealen Stoff makelloser Reinheit an, um sich schließlich auf ihre neue Plastik-Insel zu verabschieden. Die Puppen bereiten für das Mädchen im Safe Space – oder ist es ein Bubble? - schließlich einen leisen Geburtstag vor.
Die Thematiken Fleischkonsum und Plastik werden in kaum erträglicher Form im Gegensatz zu den Erkenntnissen der Umweltverschmutzung und deren Folgen scheinbar gelobt - wohl der erwähnte postironische Zugriff.
Die Musik von Thomas ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Stilelementen. Es werden seria- und buffa-Elemente gegenübergestellt, die Tradition der Oper mit der Operette und Versatzstücken aus der U-Musik aufgemischt. Im Orchester wird reichlich Live-Elektronik verwendet, die über ein speziell gesteuertes Mischpult beigegeben wird. Instrumentalisten und Tonkünstler schaffen eine neue, multimediale Opernform, der man in ihrer feinen Komplexität beim ersten Hören kaum gerecht werden kann.
Unter der Leitung von Rupert Burleigh spielen sieben Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Zum Einsatz kommen Violine, Kontrabass, Klarinette, Trompete, Schlagzeug, E-Gitarre und ein Keybord.
Die Regisseurin Alicia Geugelin ist vom Komponisten frühzeitig zu einem kreativen Team-Prozess eingeladen worden. Geugelin ist fasziniert von extremen Zwischenwelten. In einer vorangegangenen Arbeit hat sie sich beispielsweise in einer freien Fantasie bühnenwirksam mit dem Nahtot Don Giovannis kurz vor seiner Höllenfahrt auseinandergesetzt. Einem Konzept, das im Kopf Don Giovannis selbst stattfindet. Sie ist also vielleicht die ideale Partnerin für diese herausfordernde, extrem ungewöhnliche Konzeptrealisierung auf der Bühne.
In ihrem Team hat Geugelin die Bühnenbildnerin Letycia Rossi die ganze Opera Stabile durch mehrstufige Ausbauten und Farbgestaltungen – gewissermaßen unter Einbezug der Zuschauer - in einen Orbit der cuteness verwandeln lassen.
Die langjährige Projektpartnerin Pia Preuß hat die fantasievollen, sehr aufwändigen Puppenkostüme erarbeitet, die die Sänger außer dem Mädchen tragen. Wegen der umfänglichen, mehr-lagigen Stoffanwendungen sicherlich keine so leichte Aufgabe.
Die Regisseurin spielt mit einem Kaleidoskop von mimischen und gestischen Ausdrucksmitteln. Bei den Puppen ist nie ganz klar ist, woher Energie- oder Denkanstöße im Einzelfall kommen. Initiieren Menschen die Reaktionen der Puppen, oder umgekehrt, oder ereignet sich in Wirklichkeit ein letztlich nicht vollständig zu erforschendes Wechselspiel zwischen Mensch und Puppe? Genau diese Gratwanderung hat Geugelin im Blick.
Es gelingt ihr, dass alle Mitwirkenden auf der Bühne intensiv und begeistert agieren, und den post-ironischen Handlungs- oder Diskussionselementen mit der geforderten Unschuld unentwegt gerecht zu werden suchen. Das kann für die Darsteller auch eine sehr verunsichernde Aufgabe sein. Denn nur der Betrachter selbst kann letztlich empfinden und entscheiden, wo auf der Gratwanderung von alter und neuer Ironie, Zynismus, cuteness, safe space und bubble er wohl gerade wandelt. Beeindruckend, wer da selbst als Zuschauer immer wüsste, wo er gerade steht.
Die Partie des Mädchens ist besonders schwierig umzusetzen – ein jugendliches Mädchen in einer ohnehin nicht leichten Lebensphase gerät in die Schattenwelten von Realität und Irrealität in einem durch die Medien beherrschten Umfeld und zieht sich zunehmend verunsichert zurück. Marie Maidowski gelingt jedoch stimmlich und darstellerisch ein außerordentlich kühner und differenzierter Gang durch die Szenerie.
Der Nachbar wird mit lautstarker Geste wirkungsvoll und äußerst skurril von Aaron Godfrey-Mayes verkörpert. Daneben agieren Na’ama Shulman, Aebh Kelly, Mziwamadoda Sipho Nodlayiya und Keith Klein als spielbegeistertes Puppenensemble.
Viel Applaus für alle Beteiligten an diesem Uraufführungs-Abend, der durch ein sehr spezifisches Fachpublikum besucht war.
Achim Dombrowski
Copyright Fotos: Jörg Landsberg
02. Dezember 2024 | Drucken
Kommentare