Staatsoper Unter den Linden, Berlin
Daniel Barenboim und der Regisseur Vincent Huguet beschließen mit Don Giovanni ihre aufsehenerregende Trilogie der Mozart/da Ponte Opern an der Berliner Lindenoper
Für den Regisseur Vincent Huguet sind Mozarts drei da Ponte Opern eine Familiensaga (wenn auch in einer Chronologie, die von den Entstehungsdaten der Werke abweicht): Cosi fan tutte (uraufgeführt 1790) mit dem Untertitel Schule der Liebenden spielt demnach um 1968, Le Nozze di Figaro (1786) in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und Don Giovanni (1787) etwa zur Jetztzeit.
Huguet unternimmt den Versuch, den Kosmos menschlicher Begegnungen, Begierden, des Betrugs, der Verletzungen, Abhängigkeiten, sowie die sich daraus ergebenden Gefühle von Verlust, Melancholie und gar ein wenig Hoffnung zu zeigen, die ganz offenbar in diesen Opern thematisiert werden und mit oder trotz aller heute (vermeintlich-?) erkämpften Freiheiten unverändert Aktualität besitzen. Der Regisseur nennt es auch das Portrait einer Generation in drei Akten und bezieht sich dabei auch auf Foucault und Houellebecq.
Wie schon in vorangegangenen Teilen der Trilogie haben sich Regisseur und Dirigent in ungewöhnlich enger Weise abgestimmt und die Realisierung eines außergewöhnlichen Konzeptes erzielt.
Im Don Giovanni überrascht Barenboim schon in der Ouvertüre mit einem Dirigat, das allen in den letzten Jahrzehnten vorherrschenden Tendenzen entgegenläuft. Keine übermäßig zugespitzte Pointierung der Dynamik, kein prononciertes Auftrumpfen der Stimmen und des Orchesters. Gemessene Tempi überwiegen. Aber die Innen-Spannung bleibt konstant hoch, denn die Musik vibriert feinsinnig–nervös, vor allem in den rhythmischen Details hoch präzise und federnd. Für die Sänger ist das nicht leicht, die tempi scheinen im ersten Teil der Vorstellung häufiger zu wackeln, oder ist das die Hörgewohnheit des Zuhörers?
Bei Huguet ist Don Giovanni ein nicht mehr junger, die Vergänglichkeit seiner Wirkung auf Frauen, womöglich gar die Endlichkeit seines Lebens, fürchtender Mann. Er ist Modefotograf mit dem Schwerpunkt (natürlich) auf weibliche Portraits, ein Bereich, der der Jugend absolut huldigt und der einer verführerischen Selbstbespiegelung aller Beteiligten ein weites Feld bietet.
In über 40 Jahren hat er sich eine öffentliche Reputation erarbeitet, die ihn im ersten Akt bei der Eröffnung einer Retrospektive seines Lebenswerkes und zur Würdigung seiner Person zeigt. Anlässlich dieser Vernissage tritt Elvira in der Maske Angela Merkels auf, als Sinnbild unumstößlicher, öffentlicher Vernunft und somit also Gegenpol zu Giovannis inhaltlichem Lebensbekenntnis. Hier kann er die Würdenträger noch in seiner Rolle als Künstlertypus verspotten, doch es soll schlimmer kommen.
Alle Personen der Handlung haben gänzlich zeitgemäße Rollen- und Handlungszuweisungen.
Elvira hat ihre Träume ihrer einzigen hohen Liebe zu Don Giovanni unter Schmerzen aufgegeben. Wenn in der Registerarie Leporello sich ihr schüchtern nähert und scheu einen Kuss auf den Hals gibt, den Elvira in ihrer Einsamkeit mehr als ersehnt, erfährt der Aufbau der Szene einen überraschend-neuen, überzeugenden Inhalt. Die Geschichte dieser Begegnung wird folgerichtig weiterentwickelt, wenn Leporello im zweiten Akt Elvira auf Don Giovannis Anweisung verführen soll. Aber eine Verführung ist längst überflüssig, träumt doch Elvira melancholisch schon lange jenem/jedem Mann nach, der sich ihr endlich zärtlich und einfühlsam zu nähern vermag, so traurig kurz die Beziehung auch bleiben mag. Eine andere Hoffnung hat sie nicht mehr. Ihre Entscheidung im Schlussensemble aus dieser Hoffnungslosigkeit der Welt in die Abhandenheit des Klosters zu entfliehen, erscheint nur konsequent.
Auch bei Donna Anna unterbleiben alle überbetonten musikalischen Aufschwünge oder gar Hysterie-Ausbrüche. Auch sie wird auf der Bühne zu einer überzeugend geerdeten, modernen Frau. Die musikalische Realisierung besticht in feinen Übergängen und der Vermeidung von Exaltiertheiten und kreiert schwebend-melancholische und glaubhafte Empfindungen.
Auch der Wegfall romantisierend-idealisierender Elemente unter anderem durch die Zusammenziehung von Friedhofsszene, Festessen und Schluss-Szene in der Realität eines Beerdigungsinstituts besticht: Elvira, Anna und Ottavio begegnen sich im Angesicht der aufgebahrten Leiche von Annas Vater. Annas und Ottavios zerbrechliches Zaudern vor dem Hintergrund des aufgebarten toten Vaters entspringt ganz real dem Leid der Trauer und nicht – wie sonst so oft - über-menschlicher, idealisierter, oder (schein-) religiöser Verstiegenheit.
Bei der Erscheinung des Komturs sitzt dieser wie zum höchsten, bürgerlichen Weltgericht und lässt Don Giovanni per Dekret durch eine Giftspritze töten. Die öffentliche Vernunft hat sich der Unzumutbarkeiten und der Unkalkulierbarkeit des Außenseiters entledigt. Wer will, mag auch an Falstaff denken. Zum Schluss blickt Don Giovanni dann – unsichtbar – mit gemischten Gefühlen vom Bühnenrand auf die eindimensionale Zukunft der Hinterbliebenen. Diese Welt der Überlebenden wird berechenbarer, sicherer und verlässlicher sein. Oder erahnen sie schon, was verloren ging? Fühlen sie, dass sie den Zauber und Selbstbetrug der eigenen Verführbarkeit des Prinzips Don Giovanni vermissen werden?
Die Szene spielt atmosphärisch überzeugend in einem sachlich-modernen Bühnenraum von Aurélie Maestre mit viel Sichtbeton-Innenarchitektur und den charaktervoll-korrespondierenden Kostümen von Clémence Pernoud.
Michael Volle ist ein brillanter Don Giovanni mit dem Auftritt eines Künstlers, der umso kindisch-trotziger agiert, desto mehr er zunehmend selbst an seiner Jugend, Kreativität und Wirkung zweifelt, bzw. sich von der bürgerlichen Umgebung eingeengt fühlt.
Riccardo Fassi ist ein äußerst spielfreudiger Kammerdiener auf der Suche nach seiner eigenen Rolle. Seine souveräner, technisch meisterhaft geführter Bass-Bariton öffnet sich im Laufe der Vorstellung immer mehr.
Die Donna Elvira der Elsa Dreisig brilliert in den ungewöhnlichen tempi der Vorstellung von vornherein mit äußerster Sicherheit und Brillanz. Die Perfektion ihres Singens und ihrer Stimmführung steht in wundersamem Kontrast zu der zunehmenden Melancholie ihres Rollenportraits.
Slávka Zámečníková besticht mit ihrer silber-hellen Sopranstimme und ausgefeiltester und sicherer Technik. Mit Bogdan Volkov steht ihr ein Ottavio von feinsinnigster stimmlicher Darstellungskunst zur Seite.
Wunderbar natürlich und präsent in Stimme und Darstellung der Masetto von David Oštrek sowie seine Zerlina der Serena Saenz. Noch immer stimmlich durchsetzungsstark der Komtur von Peter Rose.
Der Staatsopernchor unter der Leitung von Martin Wright überzeugt auch darstellerisch.
Die Staatskapelle Berlin beweist einmal wieder, in welch absoluter Weise dieser Klangkörper über viele Jahre mit Barenboim verschmolzen ist. In gewisser Hinsicht ist es das Orchester, das nicht nur durch die tempi-Vorgaben die Charakterisierung der Produktion ganz besonders trägt.
Standing Ovation, einzelne Buhrufe für den Regisseur. Tja, na klar: man könnte Don Giovanni auch altbacken-vertraut wie immer spielen.
Achim Dombrowski
Copyright: Matthias Baus
06. April 2022 | Drucken
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