Premiere am 30. Oktober 2021
Staatsoper Hannover
Verdis Otello als traumatische Kriegserfahrung aus Sicht der Titelfigur – ein gelungenes Konzept, wenn auch mit Übertreibungen
Verdis Otello ist die Geschichte eines unaufhaltsamen Verfalls: Der Kriegsheld kehrt zu Beginn der Oper noch als Sieger aus Seeschlacht und Sturm gefeiert nach Venedig zurück. In Jagos Fängen entzündet sich eine selbstzerstörerische Misstrauen gegenüber seiner Geliebten Desdemona. Er erniedrigt sie öffentlich und erdrosselt sie schließlich im Taumel blinder Eifersucht bevor er sich selbst tötet.
Der Regisseur Immo Karaman und sein Team verkürzen und erweitern diese Handlung gleichzeitig. Otello wird von Beginn als ein unter heftigen posttraumatischen Bewusstseinsstörungen leidender Kriegsrückkehrer gezeigt. Wir erleben in weiten Teilen keine live-Geschichte mehr, sondern die Rückerinnerung an Geschehnisse, die Otello unter dem Einfluss seines eigenen Kontrollverlustes durchleiden muss. Er ist unheilbar traumatisiert, seine Frau Desdemona pflegt ihn und fällt seinem Eifersuchtswahn zum Opfer.
Die Außenseiterrolle Otellos wird in Hannover auch nicht durch seine Hautfarbe bestimmt. Sie spielt keine Rolle, er ist ein weißer Kriegsherr unter weißen Soldaten, sein Außenseitertum ist hier durch seine psychische Versehrtheit begründet.
Neben dieser fokussierten Perspektive ist die Opernhandlung jedoch auch weiter gesponnen worden. Um die tiefere Durchdringung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch den unkontrollierbaren Krankenzustand zu verdeutlichen, zeigt Kammaran im Vierten Akt Desdemona „zuhause“, nicht alleine mit ihrer Kammerfrau Emilia im Schlafzimmer, sondern umgeben von zwei Kindern, die sie mit Otello hat. Wir erleben eine weitere zeitliche Verschiebung der Situation auf einen Punkt nach Hochzeit und Geburt zweier Kinder, die weder bei Shakespeare noch bei Boito – dem Librettisten Verdis – existiert.
Handlungen, Rückerinnerungen, Albträume finden in einem gespenstischen Ambiente statt. Das Bühnenbild von Etienne Plus zeigt den Einheitsraum eines zunächst schmalen Zimmers mit minimalen Ausstattungsmerkmalen wie Kühlschrank, Stuhl und am Boden liegender Matratze im Nirgendwo. Etwa wie in einer kleinen, ärmlichen Wohnung, einem Hotel oder einer psychiatrischen Anstalt. Einige wenige Ausstattungsmerkmale deuten regional auf die USA hin, könnten letztendlich ebenso in Russland oder anderswo lokalisiert sein.
Dieser Raum erweitert sich durch Wegnahme von Zwischenwänden immer weiter nach hinten. Er wandelt sich nicht, sondern vervielfältigt seine Trostlosigkeit in vollkommen gleichen Räumen, angeordnet im angedeuteten Halbkreis, wie die imaginierten, unkontrollierten Windungen von Bewusstsein und Unterbewusstsein im Kopf des Opfers.
In diesen Teilebenen spielen Elemente der Handlung mit Solisten oder des Chores. Dabei ist für den Betrachter nicht auszumachen, welche Ebenen für die Otello umgebenden Personen überhaupt und wann sichtbar sind, oder ob es sich nur um Bewusstseinsfragmente im Kopf der Titelfigur selber handelt. Die Ebenen verschwimmen unkontrolliert. Der Betrachter fühlt sich auf unsicherem Boden.
Die unwirkliche Szene wird abgerundet durch die Lichtregie von Susanne Reinhardt, die Videokunst von Philipp Contag-Lada, sowie die Movement Choreographie von Fabian Posca, der den Chor in den öffentlichen Auftritten wie Lemuren unter visuell zerstörenden Video-Überblendungen agieren lässt. Die Kostüme von Gesine Völlm konzentrieren sich auf funktionalen Signale in der Zeichnung der Personen und ihrer Rolle in der Gesellschaft wie Soldat, Befehlshaber, junge Frau, Mutter etc.
Das Konzept geht auf. Die Bühne als Psychogramm eines Opfers und Plattform für die weiteren gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Verheerung wird unmittelbar deutlich und erschüttert den Betrachter. Lediglich die im Vierten Akt hinzuerfundenen – und immerhin verschonten - Kinder sowie die mit viel Blut eines amerikanischen B-Movies inszenierte Erschießung der nach ihrer Erdrosselung bereits im Sterben liegenden Desdemona sind überflüssig, auch wenn solcherlei Übersprungreaktionen der Opfer-Täter in der Realität denkbar und nachgewiesen sind. Anders als in den vorangegangenen Teilen der Oper steht dieser Phantasiezusatz auch quer zum Charakter der Musik des letzten Aktes. Die gesellschaftliche Gefährdung ist auch ohne diese Elemente schon mehr als sichtbar geworden und unter die Haut gegangen.
Das Konzept überzeugt ansonsten vor allem auch wegen der großartigen Sängerdarsteller. Martin Muehle gibt sein Rollendebut als Otello. Die Strahlkraft seines Tenors ermattet nie. Die verletzliche Sensibilität und Ausstrahlung des Sängers prädestinieren ihn für das spezifische Rollenmodell der Regie. Pavel Yankovsky als Jago verfügt über eine geschmeidige und kraftvolle Erscheinung in Stimme und Darstellung. Er vermag die unheimlichen Zwischenwelten des Intriganten bestens zu verkörpern. Existiert er oder ist er eine Phantasmagorie Otellos? Barno Ismatullaeva als Desdemona vermag die Ausdrucksvielfalt der Partie von der Preghiera und dem Duett mit Otello bis zu den Aufschwüngen in den großen Ensembles glänzend zu verkörpern. Alle drei Protagonisten scheinen unbegrenzte Stimmreserven zu besitzen. Einen solchen Luxus erfährt man selten – nie muss man sich über die Durchhörbarkeit und die stimmliche Kraft Gedanken machen, eher schon wäre gelegentlich die Zurücknahme der Stimmen hilfreich für ein organisches und ausgewogenes Klangbild. Der Cassio von Marco Lee und die Emilia von Ruzana Grigorian seien beispielhaft für das gut besetzte weitere Ensemble genannt.
Chor der Staatsoper Hannover unter der Leitung von Lorenzo Da Rio überzeugt, wenngleich in den großen Szenen nach der Nervosität am Premierenabend noch größere rhythmische Souveränität zu erwarten ist.
Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter dem Generalmusikdirektor Stephan Zilias spielt vorzüglich. Die durchhörbaren Holzbläser vermögen Details hörbar zu machen, die man so noch nicht erleben konnte. Auch hier mag eine steigende Sicherheit in den Nachfolgevorstellungen bei aller Kontrolliertheit den Raum für eine rhythmisch noch authentischere Italianità ermöglichen.
Das Publikum feiert die Mitglieder des gesamten Teams, allen voran die Sänger-Protagonisten der Hauptrollen. Dem Regieteam begegnete auch eine kleine, aber beherzte Buh-Fraktion.
Achim Dombrowski
Copyright: Sandra Then
02. November 2021 | Drucken
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