Matera ist eine der ältesten Siedlungen Europas und feiert zu recht dieses Jahr seinen Status als Kulturhauptstadt. Tief im Süden Italiens liegt die Stadt in der Provinz Basilicata im Hinterland der Städte Tarranto oder Bari. Einmal angekommen ist der Besucher gleich fasziniert in eine andere Welt entrückt. Bis 1952 lebten hier die Einwohner zumeist in befestigten Höhlen. Einfache Häuserfassaden wurden dem ausgehöhltem Karstgebirge vorangestellt. So entsteht ein Ortsbild wie aufgeschlichtete Bauklötze und zieht sich malerisch entlang einer Schlucht. Wasser und ein begünstigtes Klima im Hochland machten den Standort zu einem Zentrum der griechischen Kultur und im Mittelalter der Normannen. Danach verliert sich die Stadt im Nirgendwo und verwahrloste, bis der Tourismus sie wachküsste. Mit seinem komplett erhaltenen mittelalterlichen und teilweise barockisiertem Häusern und Kirchen ist das Stadtbild Kulisse und Bühne zugleich. Zahlreiche Filme wurden hier gedreht und jetzt zieht auch der Opernzirkus ein. Dieser Einzug wird im ganzen Ort gefeiert und dem Opernabend ist ein Prolog ganz nach süditalienischem Habitus als Prozession vorangestellt.
Inhaltlich werden die sieben Vergehen des Kapitalismus wie Gier, Völlerei oder Verschwendung als Laienspiel vom Regisseur Giorgio Barberio Corsetti inszeniert. Eine Laienchor aus Bewohnern von Matera umrahmt musikalisch mit typischen Liedern der Region. Die Frauen tragen schwarze Kleider, die Herren dunkle Hosen, weisse Hemden und ärmellosen Westen, Hut oder Kappe. Erinnerungen an historische Filmaufnahmen werden wach. Ein Engel und ein Teufel als übergrosse Marionetten begleiten den Zug. Irgendwann verfällt der Zuschauer im Zug in den Taumel um sich herum und fühlt sich um Jahrzehnte in eine andere Welt zurückversetzt. So gelangt der Zug langsam entlang der Aussichtsstrasse zum Hauptplatz des alten Ortskern von Matera im Viertel Sassi Caveoso. Das sizilianische Eifersuchtsdrama der Cavalleria Rusticana, musikalisch interpretiert von Pietro Mascagni, wirkt als ob auch hier die Tragödie passiert wäre. Hoch ragt der Felsen von Idris am Platz vor der Kirche San Pietro Caveoso zur rechten auf. Links ist der Blick frei auf die Stadt und die Kathedrale mit ihrem quadratischen romanischen Turm. Eine schmale Bühne ist vor dem Kirchenportal an der Stirnseite aufgebaut. Davor spielt das Orchester des Teatro San Carlo von Neapel. Der Chor ist verstärkt mit zahlreichen Bewohner der Stadt. Ein langer Steg reicht tief als Bühne in den Zuschauerraum, welches stehend das Spektakel verfolgt.
Der Regisseur Giorgio Barberio Corsetti überträgt die Gesichter der Sänger immer wieder auf die Felswand und mischt sie mit Videos farbenprächtig auf. Blumen wachsen bunt auf den Feldern zur Ouverture, ein Bauer mit seinem Traktor arbeitet in den Kornfeldern, stimmungsvoll wächst die Ansicht der Stadt im Abendhimmel auf der Felswand wie ein Puzzle zusammen. So erreicht er eine ausdrucksstarke wirkungsvolle Mischung zwischen direktem greifbaren Opernerlebnis, die Sänger befinden sich mitten unter den Zuschauern, wie grossflächiges Kinoerlebnis unter den Sternen. Veronica Simeoni präsentiert sich als solide klangfeste Santuzza, ihr Sopran versprüht viel Farbe und gleitet weich in den Gefühlen zwischen Zorn und Zuneigung. Roberto Aronica startet kräftig mit viel Inbrunst, wirkt aber belegt und kämpft sich durch die Partitur. Die Spitzentöne werden unklar. George Gagnidze ist ein verhärmter Alfio, seine Bühnenpräsenz baut keine Spannung auf. Dank dem künstlerischen Leiter des Opernhauses von Neapel Juraj Valcuha und des bestens einstudierten Chores wird der Abend zu einem musikalischen Erlebnis mit unvergesslichen Bildern.
04. August 2019 | Drucken
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