
Kontemplation und Öko-Apokalypse: Regie fordert und beseelt das Publikum
Parsifal Richard Wagner Besuch am 16. März 2035 Premiere Oper Essen Aalto-Theater
Kontemplation und Öko-Apokalypse: Regie fordert und beseelt das Publikum
Höchsten Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser! Musikalisch ist die Weihestunde perfekt. Aus der Höhe klingen zarte weihevolle Stimmen. Andächtig feiern Chöre die Wonne der Empathie. Harfen rauschen, und das Orchester erklimmt mit einem ausgedehnten Crescendo einen letzten Gipfel Doch auf der Bühne ist die Welt zur Apokalypse denaturiert. Die organische, die ganzheitliche Welt existiert nicht mehr, allenfalls noch als Idee.
Einsam und allein erlebt der neue Herr der Gralsburg Monsalvat die letzte Phase der „Exerzitien des Schmerzes“. Unter diesen Begriff stellt Roland Schwab seine Neuinszenierung des Parsifal am Essener Aalto-Theater. Eine aufregende, zwischen Kontemplation und Öko-Drama changierende Regiearbeit, die das Publikum fordert, zugleich beseelt und im Verein mit der endlosen Melodie der Partitur ein Stück verzaubert. Eine Annäherung, die es in tiefes Nachdenken zwingt und gleichzeitig mit Anstößen beschenkt, die die Sinnfälligkeit von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel für jede Zeit belegt. Also auch für unsere.
Was ist Parsifal, Wagners opus maximus, von ihm selbst als „Weltabschieds-Werk“ verstanden? In seiner epochalen Analyse Die Welt nach Wagner begreift es der Musikkritiker Alex Ross als katholisches Mysterium, gnostisches Rätsel, buddhistische Erleuchtung und schwarze Messe. Zeit seines Lebens träumt Wagner von einer „neuen Religion“. Ihn beschäftigt die Überwindung der traditionellen Weltanschauung, die Aufhebung der Beschränkung von Kunst, Politik und Spiritualität. Wagner entwickelt seine Vision der Erlösung des Menschen durch Empathie aus christlichen, buddhistischen, maurischen und germanischen Mythen.
All diese philosophischen, theologischen und spirituellen Denkmuster sind wie Spurenelemente in Schwabs Konzept für Essen verarbeitet. Ist Parsifal Wagners ausgereiftestes Gesamtkunstwerk, so präsentiert sich die dritte Aalto-Auseinandersetzung mit ihm seit den 1980er-Jahren als ein ideenreiches kreatives Miteinander von Szene und Ausstattung, von Kunst und Handwerk im besten Sinne. Schwab, der seine Affinität zum Musikdrama Wagners zuletzt 2023 mit einer akribisch erarbeiteten Inszenierung von Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen unter Beweis gestellt hat, geht es weder um fertige Antworten, die die parareligiöse Erlösungsphantasie des Komponisten eh nicht kennt, noch um „fertige“ Bilder. Im Zusammenspiel mit den Bühnenbildern von Pierro Vinciguerra, den Kostümen Gabriele Rupprechts und den Videoinstallationen von Ruth Stofer offenbart das Essener Haus mit dieser Produktion „am offenen Herzen“, wozu die Werkstatt Aalto in der Lage sein kann.
Parsifal ist ein mythologischer Entwicklungsroman, der die Geheimnisse und Rätsel der Menschheitsgeschichte in einem permanenten Voranschreiten durch Raum und Zeit, in einer Abfolge von Kreisläufen des Irrens und des Leidens, des Fortschritts und des Scheiterns zeigt, auch von Stufen der Bewusstseinserweiterung, die sich am Ende in der Metapher der Erlösung manifestiert. Bildhaft wird dieser Prozess in der Veränderung, die der „reine Tor“ auf seinem Weg zum Hoffnungsträger in Schwabs Inszenierung durchläuft. Wandert in der Videoprojektion zu den ausgedehnten Klängen des Vorspiels, das thematisch von Liebe und Glauben handelt, ein in der Rückansicht zu sehender junger Parsifal durch einen grünen Wald - Topos der Romantik schlechthin -, so ist in den Videobildern zum Vorspiel des dritten Aufzugs, das Schmerz und Tod thematisiert, das Grün einer trostlosen Öde mit abgestorbenem Gehölz gewichen. In ihr kann sich Parsifal, erneut von hinten zu beobachten, offenbar nur dank einer Gasmaske bewegen.
Den kreisförmigen Prozess des Werdens, Vergehens, Veränderns in der Sicht des Regisseurs symbolisiert eine abstrakte gebogene Röhre mit Neonlichtquellen, Kabeln und Schläuchen, die entfernt an den Zeittunnel erinnert, in dem Götz Friedrich seinen Ring des Nibelungen spielen ließ. Vinciguerras verblüffende Architektur schwebt ein Stück über dem Boden wie der sinfonische Fluss des musikalischen Vorspiels, nimmt von Aufzug zu Aufzug wechselnde Formen an und erlaubt sich eine physikalische Irritation. Das Fundament ist unter Wasser gesetzt, symbolisiert einen Urstoff des Lebens, des Religiösen, von der Taufe bis zum Bad, das Amfortas Linderung bringen soll. Zugleich provoziert es ein Gedankenspiel mit dem Blut, das aus der Wunde des siechen Königs fließt, das er spendet, um die morbide, sich an Rollatoren vortastende Ritterschaft am Leben zu erhalten. Dazu schwebt Amfortas mit seitlich ausgestreckten Armen in einem weißen Klinikbett über dem Grund.
Mit der Agonie der Welt des Grals und dem Verfall der Rittergemeinschaft im dritten Aufzug ist dann auch das Leben erhaltende Wasser zurückgedrängt. Jetzt ist es nur noch in weißen Kanistern zu haben. Eine Metapher für eine in ihren Ressourcen ausgebeutete Welt von heute? Mühe bereitet es Gurnemanz die Behälter herbeizuschaffen. Dafür verlässt er seine herunter gekommene Behausung, einen simplen Holzverschlag, wie er Schafhirten dient, der unter Anspielung auf die Bayreuther Wagner-Villa die Aufschrift Wahnfried trägt. Niedergang auch dort?
Der zweite Parsifal-Aufzug mit Klingsors Dämonie, dem berückenden flirrenden Gesang der Blumenmädchen im Zaubergarten des verstoßenen Ritters und dem dramatischen Dialog Kundrys mit dem Fremden offenbart die kühnste Musik des ganzen Werks. Ähnlich kühn, wild und provokant fällt auch die Ausstattung von Klingsors Zaubergarten aus. In das Gesträuch des Schlossgartens ist ein explizites Zitat der Installation TV-Garden von Nam June Paik von 1974 integriert, die Schwab als Hommage an den buddhistisch orientierten Künstler versteht. Auf eine Batterie von Röhrenfernsehern im Retro-Look werden Motive aus Parsifals Kindheit zugespielt, die sich in seinem Unterbewusstsein festsetzen und dazu beitragen, ihn „welthellsichtig“ werden zu lassen. Wünscht Wotan im Ring zuletzt nur noch „das Ende“, so ist in Schwabs düsterer Sicht auf Wagners Erlösungsutopie dieses Ende absolut. Die Heilsgestalt der Mythologie hat ihren Auftrag erfüllt, die Wunde des Amfortas geheilt und von Gurnemanz die Verantwortung für die Gralsgesellschaft übernommen. Doch ist eine Zukunft mit diesen Elendsgestalten, die an Insassen einer Pflegeeinrichtung erinnern, undenkbar.
Es zählt zu den Eigentümlichkeiten der Produktion, dass Andrea Sanguineti am Pult der Essener Philharmoniker zu dieser Dystopie der Schauplätze und Bilder ein austariertes Klangbild schafft, ohne dass die Bildsprache der Bühne und die Tonsprache aus dem Graben signifikant auseinanderklaffen. Essens GMD wählt die Tempi bedachtsam, stilisiert die Verwandlungsmusiken, insbesondere die erdentrückte Karfreitagsmusik zu sinfonischen Ereignissen, lässt dem orgiastischer Klangrausch seinen Raum, ohne dass ein Soundmassiv entsteht, gegen das die Sänger nur schwer bestehen können. Die Holzbläser steigern sich in einen warmen, beseelten Ton, die Blechbläser agieren kraftvoll, ohne zu überziehen. Ein Dirigat über die lange Strecke von fast sechs Stunden bei zwei längeren Pausen, das die Balance zwischen Opulenz und Zurückhaltung wahrt.
Die musikalische Qualität der Aufführung wird vor allem durch Sebastian Pilgrim in der Partie des Gurnemanz gesichert, die schon vom Umfang zu den umfangreichsten und anspruchsvollsten Bassrollen im Werk Wagners zählt. Pilgrim trägt wie ein Navigator der Vernunft den Fortgang der Handlung durch seine schön timbrierte Stimme, artikuliert ungewöhnlich textverständlich, hält den enormen Spannungsbogen aufrecht und entwickelt eine starke Bühnenpräsenz. In den weiteren tiefen Stimmlagen bekunden Heiko Trinsinger als leidender wie emphatischer Amfortas und der Titurel des Andrei Nicoara ihre Wagner-Kompetenz. Almas Svilpa stattet den Klingsor mit der teuflischen Ausstrahlung und der sprunghaft aufblitzenden Aggressivität aus, die die Rolle des gestürzten Gralsritters verlangt.
Würden alle Einsätze des Parsifal aneinandergereiht, läge die Gesamtdauer der Partie bei etwa zwölf Minuten. Gleichwohl gelingt es Tenören durch glanzvolle Gestaltung immer wieder, einer Aufführung die prägende Strahlkraft zu verleihen. Robert Watson verfügt zwar über ein solides Material. Die silbrig einschmeichelnde Höhe und das raumgreifende Volumen fehlen indes. Einfach bewundernswert ist der aufopfernde Wille von Bettina Ranch in der Rolle der Kundry, mit den Widrigkeiten der Elemente, hier des Wassers und der sie kujonierenden Männer, fertig zu werden. Kundry ist es aufgetragen, der breiten Palette menschlicher und übermenschlicher Empfindungen von der diabolischen über die devote Frau bis hin zur verführerischen Furie Ausdruck zu verleihen. Der Mezzosopranistin gelingt diese Spannweite stimmlich nur bedingt. Glutvolle Piano-Phasen und markantes Parlando wechseln mit schrillen Ausbrüchen, denen es an Volumen und Expressivität mangelt.
Hyejun Melania Kwon ist mit Innigkeit die Stimme aus der Höhe. Chor, Extrachor und Kinderchor, einstudiert von Klaas-Jan de Groot und Patrick Jaskolka, präsentieren sich in famoser Verfassung. Nach dem letzten ins Nichts schwebendem Ton bricht, leider allzu früh, tosender Jubel aus. Er gilt den Philharmonikern und seinem Dirigenten, den Solisten, allen voran Pilgrim und Ranch, sowie den Blumenmädchen.
Bemerkenswert, weil selten genug zuletzt am Aalto-Theater – mit gleicher Intensität und sich steigernder Vehemenz wird auch das Regieteam gefeiert.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Matthias Jung
21. März 2025 | Drucken
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