“Liebe Kitty! Die Welt spielt verrückt! Niemand wird verschont, Schwangere, Babys, Kranke. Sie alle sind vereint im Marsch in den Tod!“: So drastisch formuliert es in ihren Aufzeichnungen das damals 13-jährige deutsche Mädchen, die sich in den Niederlanden vor den Nazis versteckt hielt, bevor sie und auch ihre Familie aufgespürt und in todbringende KZs deportiert wurde. „Aus dem Tagebuch der Anne Frank“ heißen aber nicht nur ihre sehr betroffen machenden Aufzeichnungen, in denen das junge Mädchen an die fiktive Freundin Kitty minutiös aus ihrem angstvollen Alltag berichtet, sondern auch eine Komposition von Michael Tilson Thomas aus 1990. Diese war jetzt im Rahmen einer Matinee am letzten Festivalwochenende in Grafenegg im Auditorium als österreichische Erstaufführung (sogar als Welturaufführung in deutscher Sprache) zu erleben. Ruth Brauer-Kvam sprach sehr intensiv und einfühlsam die sehr betroffen machenden Texte von Anne Frank, die sehr subtil direkt in die Musik des amerikanischen Komponisten und Dirigenten eingebunden sind.
Der meist tonale Orchestersatz nimmt gefangen mit seinem aufblühenden Vorspiel, durchaus auch mit tänzerischen Themen, einer Trauerprozession, an Schüsse gemahnende Schlagwerkseffekte, brutalen Ausbrüchen aber auch sehr bewegenden Klängen. All dies wurde vom Tonkünstlerorchester Niederösterreich, dem Residenzorchester der Grafenegger Festspiele, unter dem US-amerikanischen Dirigenten Lawrence Forster sehr differenziert und bewegend musiziert.
Mit zarter Gefühlsbetontheit und warmem Streicherklang sowie einem Hauch von Mahlerscher Weltmüdigkeit konnte davor das reine Streichorchester bei Samuel Barbers „Adagio for Strings“, jenes einzige Werk, durch das der amerikanische Komponist überhaupt bekannt geworden ist, faszinieren. Es wird nicht umsonst von vielen mit Trauer und Verlust verbunden.
Ludwig van Beethovens „Achte“gilt als eine Art Stiefkind unter seinen Symphonien, denn sie klingt recht grotesk. Man wurde teils etwas machtvoll der derb-fröhlichen Stimmungen und der ironisierenden Brechungen voll gerecht.Der zweite Satz wird wegen der Sechzehntel – Repetitionen immer wieder mit Johann Nepomuk Mälzel, dem Erfinder des Metronoms in Verbindung gebracht. Dann kamen die rhythmischen Verschiebungen und unerwartenden Fortissimo Schlägen voll zur Geltung, sowie der Scherzando - Charakters des Satzes, der mit einer Persiflage auf die Aktschlüsse italienischer Opern endete. Nach dem etwas behäbigen Menuett folgte der an Kontrasten und Überraschungen reiche Finalsatz mit unvermuteten Wechseln an Farben und Tonarten, ein Kabinettsstück souveräner Meisterschaft.
Viel Applaus!
Neun Mitglieder des „ensemble mosaik“ zeigten im Rahmen dieses Konzertmarathons zum Finale des Festivals am Nachmittag in der Reitschule des Schlosses was neun Synthesizer an Klängen produzieren können. Unter der Leitung von Enno Koppe, dem heurigen „Composer in Residence“ war sein Stück „Rundfunk“ aus 2018 zu erleben. Es begann mit einzelnen, rhythmischen Tönen, die immer wieder wechselten und von den anderen Musikern aufgenommen wurden. Es folgten zuerst ruhige, dunkle, dann mächtige, schrille Klänge bis in unerträglich höchste Höhen, die dekonstruiert und neu zusammengesetzt wurden, zu Geräuschen mutierten und ständig wiederholt wurden und teils ins scheinbare Chaos mündeten. Alles sehr experimentell und etwas zu monoton.
Dr. Helmut Christian Mayer
12. September 2024 | Drucken
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