"Blindekuh"ist selbst unter eingeschworenen Experten über das Schaffen des Walzerkönigs Johann Strauß (Sohn) kaum bekannt. Das mit Abstand erfolgloseste Werk des Wiener Komponisten, es war seine sechste Operette aus 1878, litt von Beginn an unter einer vollkommen wirren Handlung und an einem völlig konfusen Libretto von Rudolf Kneisel, womit der Misserfolg dieser heute nicht mehr aufgeführten, schon nach der Uraufführung besiegelt schien.
In der Wiener Zeitung „Die Presse“ findet sich am 19. Dezember 1878 eine Zusammenfassung der Handlung: „Ein Gutsbesitzer, der durch die Putzsucht und Verschwendung seiner zweiten Frau dem Ruin nahe ist, zieht sich aus der Stadt auf sein Gut zurück und hofft, sich durch die Heirat seiner Tochter aus erster Ehe mit einem reichen Neffen aus Amerika zu konsolidieren, da derselbe auf Grund eines Familienvertrages entweder die Cousine heiraten oder 40.000 Dollars Reugeld zahlen muss. Statt des Amerikaners erscheint aber bei Beginn des Stückes der eigentliche Liebhaber der Tochter. Er wird vom Vater für den Neffen gehalten und als solcher begrüßt. Er zwingt die verschwenderische Stiefmutter, deren Juwelier- und Modistenrechnungen er aufgekauft hat, seine Pläne zu unterstützen, und gewinnt schließlich auch den wirklichen amerikanischen Neffen, der schon verheiratet und das Reugeld zu zahlen bereit ist, für die Fortsetzung dieses ‚Blindekuh‘-Spiels, das natürlich mit der Verlobung des Liebespaares schließt. Die Namen- und Rollenvertauschung führt aber vorher zu zahlreichen Confusionen, wobei der Liebhaber unter anderem auch als der Mörder des Amerikaners, den er beraubt haben soll, verfolgt wird. Stellenweise laboriert jedoch diese Handlung an etwas öden Weiten und Längen.“
Mehrere Nummern aus dieser Operette ausgekoppelt, sind zu veritablen Strauß-"Hits" geworden, und mindestens fünf Melodien aus dem Stück dienten Strauß als Grundlage für spätere, erfolgreiche Walzer und Polkas. Das lässt schon erahnen, dass "Blindekuh" musikalisch substanzieller ist, als man aufgrund seiner verunglückten Aufführungsgeschichte vermuten würde. Dies bestätigt sich nun auch bei der Weltersteinspielung der gesamten Operette als CD beim Label Naxos Nr. 8.660434-35, die jetzt 2020 herausgekommen ist: Denn die Musik selbst ist lebendig und fesselnd mit Walzern, Polkas, Mazurkas, Märschen und Belcanto-Arien. In dieser Fassung ohne Dialoge und in Übereinstimmung mit den Aufführungstraditionen könnte diese Operette wieder zu einem der melodisch verführerischsten Werke von Strauß werden.
Erstaunlich wortdeutlich, wobei man leider auch immer wieder dien unsäglich trivialen Text versteht und von hoher Qualität ist die multinationale Besetzung mit ihren vielen Rollen: Robert Davidson ist ein vibratoreicher Gutsbesitzer Scholle, Kirsten C. Kunkle singt seine solide Frau Arabella. Als Tochter des Gutsbesitzers aus erster Ehe namens Waldine gefällt Martina Bortolotti mit hellem, jugendlichem Sopran. Roman Pichler singt ihren Geliebten Hellmuth Forst mit viel Schmelz. Er wird zuerst fälschlicherweise als der amerikanische Neffe gehalten. Dieser echte heißt Adolf Bothwell und wird von James Bowers ideal gesungen. Seine Gattin Betsy wird von Andrea Chudak herausragend verkörpert. Auch die restlichen, kleineren Rollen sind überzeugend besetzt. Beim Philharmonischen Chor Sofia lassen sich keinerlei Schwachstellen finden.
„Blindekuh“ seit weit über ein Jahrhundert lang vernachlässigt, wurde von Dario Salvi als engagierter Motor am Pult des anfänglich etwas dünn klingenden Sofia Philharmonischen Orchesters mit großer Lebendigkeit, viel Verve aber auch feinen Lyrismen wiederbelebt.
Dr. Helmut Christian Mayer
20. April 2020 | Drucken
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