Dirigent Attlio Cremonesi: Über Alte Musik, Entdeckung von vergessenen Opern und den neuerlichen Lockdown

Xl_cremonesi_attilio-11-20-1 © Attilio Cremonesi

Wegen des von der Politik verkündeten Lockdowns mussten alle „Alcina“ Aufführungen am Stadttheater Klagenfurt in Kärnten für November abgesagt werden. Wie empfinden Sie die Situation persönlich?

Attilio Cremonesi: Ich bin sehr traurig darüber. Dabei sind gerade die Theater auf Grund der strengen Sicherheitsbestimmungen relativ sichere Orte, so wie hier am Stadttheater aber auch in Halle, wo ich vorher dirigiert habe. Für die Kulturschaffenden ist der Lockdown finanziell und existenziell bedrohlich. Auf der anderen Seite ist die Entwicklung der Pandemie aber auch schrecklich und ich möchte nicht in der Haut der Politiker stecken. Ich hoffe aber, dass zumindest die beiden für Dezember noch geplanten Aufführungen der „Alcina“ stattfinden können. Ob die ausgefallenen Vorstellungen vom November nachgeholt werden können, da bin ich eher skeptisch, weil die Theater ja immer weit im Voraus planen und kaum Termine frei sind.

Sie mussten die Premiere von Händels „Alcina“ wegen zweier positiv getesteter Musikerinnen im KSO mit einem Streichquintett und zwei Cembali dirigieren. Wie war das für Sie?

Attilio Cremonesi: Es waren Substituten, die nur bei Strauss „Elektra“ nicht bei „Alcina“ mitgespielt haben, die sich angesteckt haben. Ich habe die Situation am Abend vor der Premiere erfahren. Gemeinsam mit dem Intendanten wollten wir keinesfalls absagen. Zuerst wurde überlegt, die Oper nur mit einem Klavier/Cembalo zu begleiten. Dann haben die Behörden gegen 15 Uhr erlaubt, es unter ganz speziellen Bedingungen mit einem Streichquintett mit den Stimmführern zu spielen. Wir hatten nur eine kleine Anspielprobe um den Klang zu testen und siehe da, er war zwar viel intimer aber sehr berührend und erstaunlich gut. Es war eine große Herausforderung für uns alle, den Raum klanglich zu füllen. Die Musiker haben mit großer Hingabe gespielt und wir hatten einen großen Erfolg. Besonders gefallen hat mir, dass Aron Stiehl nach der Aufführung alle Musiker namentlich genannt und jedem eine Rose überreicht hat. Die nächsten beiden Aufführungen konnten wir mit dem gesamten KSO spielen

Wie oft haben sie Alcina schon dirigiert?

Attilio Cremonesi: Es ist jetzt in Klagenfurt meine vierte Produktion.

Wegen der Pandemie musste „Alcina“ von 3 ½ Stunden auf rund 100 Minuten gekürzt werden. Wie stehen sie zu Kürzungen in der Oper?

Attilio Cremonesi: Die Opern des Barocks dauern alle lang. Es war zu jener Zeit jedoch nie üblich, dass das Publikum, so wie heute, vier Stunden ruhig dasitzt und zuhört. Es war damals ein ständiges Kommen und Gehen. Die Leute haben gegessen und getrunken. Wenn bekannte Arien gesungen wurden, waren alle da und es wurde heftig applaudiert. Ich bin kein Fan davon, immer das gesamte Werk ohne Kürzungen spielen zu müssen. Als Opernbesucher weiß ich selbst, dass die Konzentration nach einer gewissen Zeit nachlässt. Trotzdem war es eine Herausforderung, das Stück so extrem zu kürzen. Wir haben dies gemeinsam mit der Regisseurin gemacht, mussten natürlich Arien und Wiederholungen weglassen.

Wann und wie haben sie eigentlich ihr Faible für Alte Musik entdeckt?

Attilio Cremonesi: Im Jahre 1978 hat mir mein Orgellehrer eine Kantate von Bach vorgespielt. Die hat mich so berührt, dass ich mir davon eine LP gekauft habe. Fasziniert hat mich auch, dass man die jeweiligen Werke auf historischen Instrumenten der jeweiligen Zeit also mit dem richtigen Ton gespielt hat. Ein weiteres Schlüsselerlebnis war meine Begegnung als Student mit Rene Jacobs in Basel. Er hat damals noch gesungen und ich wurde bald sein ständiger Begleiter und Assistent auf seinen Tourneen. Bald ließ er mich auch Opern dirigieren. Er war für mich ein großer Lehrer. Ich möchte jedoch betonen, dass ich mich nicht in diese Schublade stecken lassen will, denn ich dirigiere durchaus auch modernere Werke etwa von Britten oder Strawinsky.

Was war ihr bisheriges, persönliches Highlight ihrer Karriere?

Attilio Cremonesi: Zweifellos „Dido and Aeneas” von Purcell in der Staatsoper Berlin in der Regie von Sascha Waltz. Wir haben diese Produktion sicher 50 Mal in den verschiedensten Städten weltweit aufgeführt. Weiters mein Wirken in Toulouse und in Santiago de Chile, wo es ein junges Orchester gibt, das alles nur so aufsaugt.

Sie haben schon Händels „Cesare in Egitto“ und zwei Konzerte mit dem KSO dirigiert. Warum immer wieder Klagenfurt und wie ist es, einem mit modernen Instrumenten ausgestatteten Orchester, das kaum Alte Musik spielt, diese stilistisch zu vermitteln?

Attilio Cremonesi: Ich komme immer wieder gerne hierher, denn es gibt viel Zeit und Ruhe zum Probieren. Die Musiker sind alle sehr offen und versuchen alles zu geben. Es ist wirklich erstaunlich, dass sie nach einer „Elektra“ am Vortag, bei „Alcina“ total stilsicher musizieren.

Sie gelten auch als Entdecker und Aufführer von selten gespielten Werken, wie auch Opern…

Attilio Cremonesi: Mich interessieren jene unbekannten Musiker rund um die großen Genies und ich durchwühle deshalb die Archive immer wieder nach verborgenen Schätzen. Da gibt es so viel und so wunderbare Musik zu entdecken. Leider traut man sich heute nicht, solche Werke aufzuführen. Das ist schade, denn diese Werke haben hohe Qualitäten.

Was werden sie jetzt machen?

Attilio Cremonesi: Ich fahre zurück nach Freiburg, wo ich mit meiner Familie, meiner Frau und zwei Kinder wohne. Wahrscheinlich muss ich nach der Einreise in Quarantäne. In Deutschland wie auch in Italien ist ja auch schon alles heruntergefahren und es gibt keine Kulturveranstaltungen. Wahrscheinlich werde ich neue Stücke vorbereiten oder eine CD aufnehmen. Mal sehen, was sich so anbietet.

Dr. Helmut Christian Mayer

 

Zur Person:

Geboren in Crema, in der Lombardei zwischen Cremona und Mailand, 57 Jahre, studierte Klavier, Orgel, Komposition und Dirigieren in Piacenza und Basel. Er zählt heute zu den anerkannten Spezialisten für selten aufgeführte Werke des Barocks und der frühen Klassik und ist weltweit ein gefragter Interpret dieser Werke u.a. bei den Innsbrucker und Wiener Festwochen, Dresdner und Schwetzinger Festspielen, Lucerne Festival, sowie Opern an der Berliner Staatsoper und Deutschen Oper, Bonn, Oslo, Antwerpen, Paris, Toulouse, Montpellier, Genf, Luzern, Basel, Wien, Amsterdam, Lissabon, Sydney, Santiago de Chile u.a. Zusammenarbeit mit der Akademie für Alte Musik Berlin, Münchner Symphoniker,  Concerto Köln, Freiburger Barockorchester, Beethoven Orchester Bonn, Orchestra de la Teatro la Fenice, Collegium Vocale Gent, Kammerorchester Basel. Zahlreiche CDs. Lebt in Freiburg.

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