Er ist alt. Aber noch immer sucht er das Vergnügen und bezahlt einer halbnackten Prostituierten gleich am Anfang für Sex. Dann aber beginnt er zu leiden und steht schon knapp vor dem Freitod, bis er das Böse herbeiruft. Und der Teufel erscheint tatsächlich und gibt ihm nach Unterzeichnung des Paktes die Jugend und Vitalität zurück. Allerdings nur temporär, denn immer wieder altert er und muss mit einem neuen Fläschchen des Wundertranks, den er von Mephisto erhält, nachladen. Deswegen gibt es als Double auch einen alten Schauspieler der immer wieder als alter Faust erscheint. Als junger Mann springt er jedoch gleich zu Beginn beherzt mit Mephisto aus dem Balkon seiner schicken Wohnung und fliegt mit diesem gemeinsam über das nächtliche Paris. Auch über die Kathedrale von Notre Dame, die vom Teufel gleich einmal in Brand gesteckt wird. Ein anderes Mal galoppieren sie auf gestohlenen Pferden durch das Vergnügungsviertel Pigalle und entlang des Champs-Élysées: In so beeindruckenden Bildern sowie Filmen und reich an neuen Ideen hat Tobias Kratzer Charles Gounods „Faust“ an der Pariser Oper brandneu in Szene gesetzt, die jetzt wieder ohne Publikum live gestreamt wurde. Manuel Braun hat dafür etliche Szenen an Videos geschaffen, die auf eine halbtransparente Leinwand von der Größe des Bühnenvorhangs projiziert werden.
Der 41-jährige deutsche Regisseur Tobias Kratzer ist für seine spektakulären Opern- und Schauspielinszenierungen bekannt. Die Inszenierung von Wagners „Tannhäuser“ aus 2019 in Bayreuth wurde mit dem „Opera Award“ für die „beste Regie“ ausgezeichnet. Sein Debüt jetzt an der Pariser Oper ist gut gemacht, durchdacht und überwiegend überzeugend, sowohl in der Genauigkeit als auch in der technischen Beherrschung seiner Verwirklichung. Er hievt das Werk ins Hier und ins explosive Heute, ins Zeitalter der Pandemie und kann damit fesseln. So erscheint Valentin mit seinen Sportsfreunden am eingezäunten Basketballplatz. So wohnt Maguerite in einem unsympathischen Wohnblock, wo man ihre Einzimmer-Wohnung eingeschnitten im ersten Stock sieht. Statt in die Kirche zu gehen, fährt sie in der Pariser Metro, wo sie der Teufel verflucht. Der wird immer begleitet von mehreren schwarzgekleideten, herumschwirrenden Assistenten, die ihn bei seinen Untaten unterstützen. Etwa beim Duell, wo Valentin ins Messer von Faust gestoßen wird. Nicht immer geht alles auf, nicht alles ist nachvollziehbar, so wenn bei der Liebesnacht nicht Faust, sondern Méphistophélès sich mit Marguerite vereinigt, und später in einer Gruselszene beim Gynäkologen, wo über den Bildschirm des Echolots ein Dämon flimmert. Der Horror Film „Rosemary’s Baby“ lässt grüßen. Und teils wird es zu drastisch, wenn etwa Marguerite ihr Kind in der Badewanne ertränkt.
Musikalisch ist die Produktion auf hohem Niveau. An der Spitze des bestens disponierten Orchesters der Pariser Oper hat Lorenzo Viotti eine ungemein delikate und raffinierte Lesart der Partitur mit vielen Zwischentönen und feiner Pianokultur aber auch der notwendigen Dosis an Leidenschaften und Emotionen.
In der Titelrolle ist Benjamin Bernheim, ein 35-jähriger Pariser, nahe am Ideal zu erleben. Mit betörendem Stimmzauber, Höhensicherheit, souveräner Sensibilität und Eleganz singt er mit berührender Ausdrucksweise. Und wie ein schüchterner Teenager ist er bei seiner Arie "Salut! Demeure chaste et pure" an der Schwelle des Vorortgebäudes, wo seine Angebetete wohnt, zu erleben. Marguerite wird von Ermonela Jaho mit etwas zu kleindimensioniertem Sopran gesungen,anfänglich auch mit etwas zu starkem Vibrato aber insgesamt mit großer fragiler Innigkeit und beeindruckendem Spiel. Sie wird auch von Michèle Losier begehrt, die die Hosenrolle des Siebel etwas blass aber solide präsentiert. Sylvie Brunet-Grupposo ist eine temperamentvolle Marthe. Florian Sempey verfügt als Valentin über einen samtig timbrierten Bariton. Christian Van Horn ist ein zynischer, bösartiger, extrem dämonischer Méphistophélès zum Fürchten mit imposantem, schwarzem Bass, im Gothic-Style gedresst.
Dr. Helmut Christian Mayer
12. April 2021 | Drucken
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