Naht- und mühelos flossen die Stimmen ineinander, mit schwebender Rhythmik und einem ekstatischen Farbenrausch hörte man exzessiv und ausgreizt die wunderbaren Streicher: Genauso erklang Arnold Schönbergs Frühwerk „Verklärte Nacht“ op. 4, in der Fassung für Streichorchester, das auf dem gleichnamigen Gedicht von Richard Dehmel beruht, bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter ihrem neuen Chefdirigenten Daniele Gatti im Wolkenturm beim Grafenegg Festival. Dabei wurden die Rede und Gegenrede von Mann und Frau, über ein schuldhaftes Vergehen in einer freien Liebesbeziehung mit der Tristan-Harmonik wunderbar wiedergegeben.
Fein schwebend ertönte dann aus dem Nichts heraus ein Klangteppich, immer wieder unterbrochen von verschiedensten teils zu aufdringlich musizierten Naturlauten und es fehlte anfänglich etwas an Spannungsvollem. Grotesk erklang danach der volkstümliche Ländler, besonders düster der Trauermarsch, zweimal gebrochen von ironischen Jahrmarktklängen. Schließlich das Finale, das mitreißend expressiv zu hören war, mit der monumentalen Schlussapotheose, die den Schlussjubel des Publikums regelrecht provozierte: Abgesehen vom italienischen Maestro teils schwer nachvollziehbaren gewählten Temposchwankungen, wusste das Orchester bei Gustav Mahlers 1. Symphonie („Der Titan“) meist zu brillieren: Spielfreudig, farbenreich, mit einer weiten dynamischen Palette und glühender Gefühlen. Dabei begeisterten auch die exzellenten Solisten aus den eigenen Reihen.
Mit großer Leidenschaft dirigierte Gatti noch als Zugabe Giacomo Puccinis Intermezzo aus „Manon Lescaut“.
Mit einem langen, hochvirtuosen Schlagzeugsolo begannen gleich anschließend die Nach(t)klänge im Eingangsbereich des Schlosses Grafenegg. „Fell“ heißt das Stück. Es stammt von Enno Poppe, dem diesjährigen, bereits 18. „Composer in Residence“ vom Grafenegg Festival. Dann konnte man durch die wunderbaren, holzvertäfelten Prunkräume im ersten Stock wandeln, wobei in jedem Raum eine musikalische Überraschung wartete: Musikerinnen und Musiker des auf zeitgenössische Musik spezialisierten Berliner „ensemble mosaik“ spielten meist solistisch acht verschiedenste Stücke Neuer Musik. Vom deutschen, 1969 geborenen und vielfach preisausgezeichneten Komponisten Poppe, der in Berlin lebt, erklang noch „Holz Solo“, bei welcher mit extremen Intervallen und Höhen die Möglichkeiten der Klarinette ausgelotet wurden, sowie „17 Etüden für Violine“. Seine Tonsprache hat einen hohen Wiedererkennungswert: Poppe betrachtet seine musikalischen Materialien wie unter dem Mikroskop, entdeckt ihren Reichtum und entwickelt aus ihnen komplexe, aber stets fassliche Klangwelten. Weiters waren beim nächtlichen Schlendern durch das Schloss noch Stücke von Liza Lim, Aribert Reimann, Rebecca Saunders und Cathy van Eyck zu erleben.
Dr. Helmut Christian Mayer
10. September 2024 | Drucken
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