Jeder kennt diese Geschichte aus der Bibel von dem jungen Hirtensohn David, der den scheinbar übermächtigen Goliath besiegt. Nun taucht dieser aufstrebende David mit dessen abgeschlagenen Kopf beim regierenden Herrscher, dem ersten König von Israel namens Saul und dessen Familie auf und mischt diese emotional gehörig auf. Die Masse liegt David bald zu Füßen, was Saul immer eifersüchtiger werden und um seine Macht fürchten lässt. Immer mehr versteigt er sich in einen Wahn. Er verübt mehrere, vergebliche Mordanschläge auf den neuen Volkshelden, tötet völlig verwirrt seinen eigenen Sohn, verliert jedoch letztlich Thron und durch Selbstmord sein Leben. David ist der neue "starke Mann". Doch bald scheint ihm ein ähnliches Schicksal bevorzustehen…
Diese Geschichte hat Georg Friedrich Händel vertont und als „Saul“, einem Hybrid zwischen Oper und Oratorium, bei dem es keinen Erzähler gibt, sondern die Figuren direkt miteinander kommunizieren, 1739 in London uraufgeführt. Am Theater an der Wien hatte 2018 eine szenische Neuproduktion in der Inszenierung von Claus Guth Premiere, die damals stark umjubelt und in allen Kritiken sehr gelobt wurde. Jetzt wollte man diese Erfolgsproduktion wieder aufnehmen, was jedoch Pandemie-bedingt nur mehr für eine Aufzeichnung für das TV ohne Publikum, sondern nur für einige wenige Journalisten möglich war.
Einmal mehr konnte der deutsche Regisseur beweisen, wie klug und aufregend Musiktheater sein kann. Claus Guth, erzählt die Geschichte als topaktuelles Psychogramm eines Staatschefs. Die leicht veränderbare Drehbühne von Christian Schmidt fast minimalistisch, ohne viele Versatzstücke, zeigt ein gekacheltes Zimmer, dem einzigen Rückzugsort von Saul, wo er auch seinen Namen mit Erde mit großen Buchstaben hinaufschmiert. Das gleiche wird David als späterer König auch machen. In diesem und einem Salon mit einem langen Tisch und einem großen Raum mit vertrockneten Wüstensand wird der Prozess der geistigen Zerrüttung eines Herrschers, der nicht von der Macht lassen kann und an dieser zerbricht, gezeigt. Gekonnt wird dabei das psychologische Spiel durchgehend auf des Messers Schneide balanciert. Dazu bewirkt Guth bei seiner ausgefeilten, detailreichen Personenführung eine immense Sogwirkung, die den Charakteren eine starke Tiefenwirkung und extreme Profile verleiht. Emotionen, Begierden und Ängste brechen auf, wobei alle drei Kinder Sauls dem Charisma des Fremden verfallen. Auch wenn David nach Sauls Selbstmord wie ein Sieger erscheint, hat er schon ein Ablaufdatum.
An der Spitze des Ensembles ist Florian Boesch in der Titelpartie. Er ist als Saul stimmlich mit seiner vokalen Stahlkraft wie auch darstellerisch eine bis ins Mark erschütternde Urgewalt. Er zieht die Aufmerksamkeit in jeder Szene an sich, zeichnet ein zerrissenes Porträt eines immer mehr in den Wahnsinn abgleitenden Diktators. Anna Prohaska als Sauls ältere Tochter Merab fasziniert mit unglaublich flexiblen Koloraturen aber auch tiefem Ausdruck. Auch Giulia Semenzato gefällt als jüngere Tochter Michal mit lyrischem Sopran. Höhensicher und eindrucksvoll auch der Tenor von Rupert Charlesworth als Sauls Sohn Jonathan. Als David erlebt man den Countertenor Jake Arditti mit ungemein flexiblem Organ, der mit der Krönung, so deutet Guth an, auch vom Wahn befallen wird, der zuvor Saul vernichtet hat. Der Kreislauf wiederholt sich. David Webb, Rafal Tomkiewicz und Andrew Morstein komplettieren das exquisite Ensemble. Spielfreudig und perfekt agiert erneut der gestisch überwiegend durchchoreographierte Arnold Schönberg Chor mit seiner Solitärstellung als Opernchor.
Und der hellwache Dirigent Christopher Moulds, der auch selbst die Rezitative am Cembalo spielt, animiert das auf historischen Instrumenten spielenden Freiburger Barockorchester stets zu extrem akzentuierten nuancenreichen Klängenund farblichen Effekten.
Es gibt ihn heute nicht mehr allzu oft, diesen Abend, an dem Musik und Inszenierung zu einem größeren Ganzen verschmelzen. Diesmal fand er statt!
ORF II zeigt am 2.5., um 09.05 den Film „Saul in Szene gesetzt“ und die Streaming Plattform Fidelio bringt am 8. 5., um 20 Uhr die Aufführung in Gesamtlänge. Unbedingt anschauen!
Dr. Helmut Christian Mayer
23. April 2021 | Drucken
Kommentare