Keine wirklich "neue" Carmen an der Wiener Staatsoper

Xl_carmen-wien-2-21 © Michael Pöhn

 

Bogdan Roscic ist mit dem Ziel angetreten, das Repertoire mit Arbeiten von Regisseuren anzureichern, die noch nie oder nur ganz selten an der Wiener Staatsoper inszeniert haben. Aber statt von diesen Neuproduktionen zu bestellen, kaufte er sich Inszenierungen ein, die nicht mehr wirklich taufrisch sind, sondern bereits an zahlreichen anderen Häusern gezeigt wurden. So geschehen auch jetzt bei Georges BizetsCarmen“-Inszenierung von Calixto Bieito. Diese ist dem interessierten Opernfreund ja wirklich bekannt: Mittlerweile schon 22 Jahre alt und schon quer durch Europa gezeigt worden. Sie ist immerhin eine Produktion, die schon das Lob ernten konnte, „fulminant“ und ein „Klassiker“ zu sein. Bieito galt ja als Enfant terrible der 2000er Jahre, hat mit seiner "Carmen" eher ein Regietheater der milden Sorte geschaffen. Also war es wirklich wert die „alte“ Inszenierung mit den ästhetischen, folkloristischen, bunten Kulissen und Kostümen der in Wien liebgewordenen Inszenierung von Franco Zeffirelli, die 42 Jahre hier gezeigt wurde, zu entsorgen?

Nun also kein Sevilla, keine Folklore und kein Ausstattungsglanz. Wir sind irgendwann und irgendwo in der schäbigen Pampa, in einer Grenzregion auf einer leer geräumten und immer wieder eingenebelten Bühne mit eher schäbigen Kostümen (Mercè Paloma): Eine Telefonzelle, ein Fahnenmast und mehrere Oldtimer der Marke Mercedes, mit denen gefahren, in denen gesoffen und die aber auch immer bis aufs Dach wieder bestiegen werden, das ist alles. Zudem noch eine im Hintergrund aufgestellte, später umfallende Plakatwand, einen Stier darstellend (Bühne: Alfons Flores). Es herrscht brutale Gewalt, auch unter den Soldaten und den Mädchen und zwischen beiden Gruppen. Die Telefonzelle wird geplündert, Mädchen werden begrapscht, Kinder spielen nicht sondern betteln. Ein trostloses Ambiente. So ist bei dieser Premiere in der leeren Wiener Staatsoper, wo nur einige wenige auserwählte Journalisten zugelassen waren, also eine verrohte, brutale Welt zu erleben. Und bald frägt man sich, was ist an dieser szenisch wenig inspirierten Inszenierung so besonders ist, dass man sie in Wien unbedingt zeigen muss. Sie stört nicht, sie empört nicht, sie besitzt aber auch nicht das gewisse Etwas. Zumindest erzählt Bieito, und das muss man ihm attestieren, die Geschichte, so wie sie ist.

Wie so oft in den letzten Jahren wirkt der Abend hauptsächlich musikalisch: Anita Rachvelishvili, erst jüngst selbst von einer Corona-Infektion genesen, ist optisch ein Vollweib, bleibt aber szenisch klischeehaft und kann nicht als jene Frau überzeugen, die allen Männern den Kopf verdreht. Sie verfügt über einen imposanten, kraftvollen und fülligen Mezzo mit großem Hang zur Dramatik, neigt jedoch anfänglich zum Distonieren. Überragend ist Piotr Beczała, der den Don José vom erkrankten Charles Castronovo übernommen hat, stimmlich in ausgezeichneter Verfassung. Er liefert einen weiteren Beweis seiner Marktführerschaft unter den Tenören. Selbst unter Hochdruck beschert seine Stimme verlässlich Klangpracht. Erwin Schrott als Nebenbuhler Escamillo wirkt ungemein viril, singt die Gockelrolle gewohnt lässig, und rollendeckend selbstverliebt. Vera-Lotte Boecker als Micaëla findet nach anfänglicher Fragilität zu hoher Intensität und klaren Tönen. Nicht zu vergessen sei der Wohlklang von so manch kleiner Rolle, wie der wuchtige Zuniga von Peter Kellner und die prächtige Mercédès von Szilvia Vörös Frasquita. Aber auch Slávka Zámecniková (Mercedes), Carlos Osuna und Michael Arivony (Remendado und Dancairo) sowie Martin Häßler (Morales) gefallen. Beeindruckend singt auch der Staatsopernchor, der sich auch durch besondere Lebhaftigkeit auszeichnet.

Staatsoperndebütant Andrés Orozco-Estrada am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper überzeugt mit Feuer und Tempo. Es gelingt ihm eine schillernde Umsetzung der Partitur mit quirligen farblichen Details. Hier wäre jedoch auch noch Luft nach oben gewesen.

Der Katalane kommt auch wieder: Nächste Saison inszeniert er abermals die Tragödie eines Pärchens, Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Dr. Helmut Christian Mayer

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