Obwohl ihre Familien tödlich verfeindet sind, lieben sich Edgardo und Lucia, eine Liebe, die letal endet. Damit sind die Beiden nichts anderes als ein schottisches Pendant zum ewigen Liebespaar Romeo und Julia. Zeitlos ist deren Geschichte und so verlegt Verena Stoiber „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti ins Jahr 1890. Genauso wie im Libretto von Salvatore Cammarano (im Gegensatz zur Romanvorlage von Sir Walter Scott) legt sie keinen besonderen Wert auf historische Hintergründe, sondern erzählt sie am Grazer Opernhaus inspiriert von der damaligen „Hysterieforschung“ in Form eines „Anatomischen Theaters“. Dies waren die ersten medizinischen Hörsäle mit einer tribünenartigen Zuschauergalerie, wo Untersuchungen, Operationen und Sektionen vor Publikum stattfanden. Zu diesem Zweck wurde in Graz ein solches in einer hölzernen Konstruktion nach einer historischen Vorlage nachgebaut (Bühne: Sophie Schneider).
Lucias Bruder Enrico, skrupellos nur auf Macht und Ehre bedacht, ähnelt dem Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot, der der deutschen Regisseurin offensichtlich als Vorlage diente. Er führt in dieser Arena, an psychisch labilen Patientinnen vor teils begeistertem Publikum allerlei Untersuchungen und Hypnoseexperimente durch. Diese werden zwangsweise hereingetrieben, gezwungenermaßen nackt ausgezogen und mit einem Schlauch abgespritzt. Man fragt sich nur, wie diese Konzeption mit der eigentlichen Geschichte zusammenpasst. Er zwingt seine Schwester zu einer ungewollten Heirat und führt auch gleich die Abtreibung ihres Kindes, das sie von ihrem geliebten Edgardo empfangen hat, mit Zwang durch. Auch die ungewollte Hochzeit, die Lucia immer mehr in die psychische Zerrüttung führt, findet in diesem Einheitsbühnenbild statt, das man auch immer wieder von der Rückseite, als eine Art düstere Kammer der Psyche, wo ständig geraucht wird, sieht. Mit der Frequenz der Drehbühne, wird ziemlich übertrieben.
Ganz anders ist die musikalische Seite: Ana Durlovski meistert als Lucia scheinbar mühelos alle Klippen des immens schweren lyrisch – dramatischen Koloraturgesangs und brilliert nicht nur in der Wahnsinnsarie. Jede Höhe und jede Nuance sitzen und sie weiß auch zarte, innige Piani auszuformen. Pavel Petrov als Edgardo verfügt über einen für diese Partie schön gefärbten, sensiblen Tenor, mit etwas kehligen Höhen. Rodion Pogossov ist ein von der Stimme kernig nobler, ansonsten skrupelloser Bruder und Politiker Enrico, Alexey Birkus ein edler Priester Raimondo. Albert Memeti (Arturo), Martin Fournier (Normanno), Andrea Purtic (Alisa) und der Chor des Hauses (Einstudierung: Bernhard Schneider) singen überwiegend tadellos.
Der unerschöpfliche Reichtum der lyrischen Musik wird von den Grazer Philharmonikern unter dem exzellenten Andrea Sanguineti mit vielen dynamischen und emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten sehr aufregend und klangschön präsentiert.
Dr. Helmut Christian Mayer
06. April 2019 | Drucken
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